Archiv der Kategorie: Psychiatrieleben

Machen Sie auch Hausbesuche?

oder
Patricia Braun leistet sich Verrücktheit

Sie fühlt sich verfolgt von der Securitate und der Stasi,
und mutet mir zu, den Unsinn anzuhören.
Sie ist ein Medium – ich bin für sie eine “deutsche Gänseliesel”.
Sie braucht Hilfe, ich darf abwaschen, eigentlich
braucht sie das Gespräch und will nicht den Abwasch.

Aber kann ich ihr folgen?
Sie nimmt keinen Kontakt auf und quatscht vor sich hin,
das idiotischste Zeug, was noch alles mit was zusammenhängt.
In den Büchern steht es auch: das Psi-Phänomen.
Bei mir nicht der leiseste Hauch von Faszination.

Als ich ankomme, murmelt sie den Namen meines Mannes,
den sie nicht kennen kann, ich verstehe den Satz nicht genau und frage nach,
sie murmelt und weiß nicht, was ich meine,
wie eine Träumende, die aus dem Tiefschlaf heraus
nach ihren unbewussten und unbeabsichtigten Äußerungen gefragt wird.
Sie zeigt ihre Nacktheit,
sie will einen Mann – nach zwei Jahren Abstinenz,
sie ist hübsch trotz ihrer 40 Jahre,
aber völlig erschöpft, mit schwarzen Rändern der Ausgemergelten unter den Augen.
Das mitgebrachte Wienerwald Huhn verschlungen,
wie man es in unserem Luxusland noch nicht gesehen hat.

Verschwörung und Böses überall, Vorwurf – an nicht vorhandene Freunde, jammerig, niemand hilft.
Selbstverständliche Erwartung der Verantwortlichkeit von imaginären Freunden.
Ich bin nur professionell, aber danke.
Sie hat ein schlechtes Gewissen, wegen ihrer Unfreundlichkeit.

Sie ist sonst sauber, putzt gerne.
Ich glaube es ihr, man merkt ihre Routine im Haushalt,
aber sie kann jetzt nicht.
Sie ist ordentlicher als ich, besser in Haushaltsdingen. Das schimmert durch.
Sie kann das Haus nicht verlassen. Klar.
Sie ruft mich an, weil wir vor Monaten einen Termin ausgemacht hatten,
für ihr Referat in einem Kurs.
Sie weiß genau um ihre Verpflichtungen, das Datum.
Sie sagt, “es ist keine Psychose, ich nehme allerdings alles auf, bin wie durchlässig”,
eine Wiederholungskonstellation erkennt sie allerdings –
wie bei der ersten Psychose.
Sie will so lange so weiter leben bis sie stirbt. Ihr hilft keiner.
Will sie aktiv sterben? Nein, aber sie kann nicht mehr. So geht es nicht weiter.

Vor einem Jahr kam sie und verkündete nach einer “Kur”:
Jetzt keine Neuroleptika mehr. Ich lebe selbstbestimmt, mein eigenes Leben.
Ich nehme keine Rücksicht mehr auf die Umwelt.
Schöne, interessante Bilder entstanden, englische Gedichte.
Die Bekannten, Freundinnen aus der Psychiatrie zu blöd, andere zu spießig,
ihre Schwester ist mit 30 gestorben, sie wird auch sterben.
Wurde ihre Schwester ermordet?
Alle um sie herum sind aus Rumänien, was sagt uns das?
Das Gesicht des Popstars auf dem CD-Cover ist ihr Vater,  als er jung war,
und von der Seite sieht er aus wie sie, sie ist es als er,
im Grunde sind sie dieselbe Person.
So geht es fast ununterbrochen.
Ich halte das nicht aus,
wenn ich darauf bestehe und klar und praktisch rede, geht’s.
Praktische Anforderungen – wo ist der Staubsauger – können unterbrechen,
dabei ist sie praktisch, zielgerichtet und kompetent.
Wir waschen eine Ladung Wäsche in der Maschine,
sie sortiert die Wäsche sachkundig.

Nach dem Hausbesuch bin ich total geschlaucht. Wieso?
Sie ist eine genau und klar denkende, sehr kompetente Frau, wer ist diese Spinnerin?
Nur noch in Anklángen die Kollegin Erika, die sich seit einem Jahr Patricia nennt.
Jetzt ist sie verrückt – was jeder Mitarbeiter früher oder später erwartet hätte, da sie nichts mehr einnehmen wollte.
Sie hat in ihrem nicht-verrückten Zeiten mit gutem Grund
gegen Neuroleptika gesprochen.
Jetzt schmettert sie jeden Vorschlag – Klinik, Arzt, Medikamente – ab.
Ihre jetzt erlebte Eigenständigkeit und Unabhängigkeit ist ihr wie eine Offenbarung.
Jetzt aufgeben? Niemals. Auch wenn nichts mehr geht.

Wie soll es weitergehen? Keiner weiß es.
Es ist immerhin seit mindestens drei Monaten so.
Warum muss jetzt etwas geschehen?
Besteht eine Gefahr für sie?
Wie soll man das wissen.
Wahrscheinlich nicht.
Wenn sie stirbt, haben wir Hilfe unterlassen?
Sie will nicht aufgeben – Psychiatrie geht gegen ihren Stolz.
Niemand versteht das so gut wie ich.
Kann sie da heraus kommen?
Müssen wir ihr helfen? Ja – aber wie?
Sie will Haushaltshilfe und Gesprächspartner.
Okay: aber Else (meine Kollegin aus dem Spdi) ist zu “physisch”, nicht geistig genug.
Ich nur eine deutsche Gänseliesel.
Wir stehen in unserer Arbeitszeit zur Verfügung.
Die durch tägliche Hausbesuche immer überschritten wird.

Danke, sagt sie. Und kuschelt sich zur Umarmung hin.
Sie sei – sagt sie – solange von niemandem in den Arm genommen worden.
Ich habe mit einer solchen Umarmung kein Problem, ich mag sie.
Sie ist eine Kollegin. In der Psychologen Szene respektiert,
teilweise bewundert. Sprachlich brillant.

Jetzt kommen, wie in einem gelebten andauernden Alptraum, ihre Ängste zum Ausdruck. Ängste wegen tiefliegender Statusunsicherheit.
Die Aufbauleistung des Vaters nach Kriegswirren und Vertreibung,
das alles ist plötzlich da und belastet.
Früher haben wir alles besprochen, versucht, eine positive, konstruktive Variante für ihre Geschichte zu finden.
Vergeblich? Alles ist schlimm und bedrohlich gefährlich und extrem erschreckend geblieben.
Muss sie es noch einmal erleben? Jammer und Unglück, an dem immer andere schuld sind.
Positiv: Verwandtschaften, Ähnlichkeiten mit Stars.
Viel über Fotos der Schwester, der Eltern. Wer sieht wem ähnlich?

Müssen wir sie zwangseinweisen, statt diesem anstrengenden Verwirrungszustand zuzusehen?
Ist es für sie Verrat, das Gesundheitsamt zu holen?
Und wenn sie dem Amtsarzt vernünftig erscheint?
Das könnte sie – wenn sie wollte – eine Zeitlang durchhalten.
Warum muss sie eingewiesen werden, wenn sie so spinnt?
Sie will ihr Unglück und hat ein Recht darauf.
Die Erfahrung sagt, dass Patienten über einen Eingriff,
der diesem Zustand ein Ende setzt, 
später froh sind.
Noch nie war jemand dem Einweisenden böse.
Diese Leute haben aber nicht so vehement im klaren Zustand die Psychiatrie
und die Dämpfung durch Medikamente abgelehnt.


Das ist die ungefilterte Momentaufnahme der Befindlichkeit einer SpDi- Mitarbeiterin beim Hausbesuch.
Aus: Sozialpsychiatrische Dienste, ein Luxus für reiche Zeiten? Zugehörigkeit, Orientierung, Verantwortlichkeit, hilfe Blätter von EREPRO Nr.11, 2004, S. 55

Aufklärung über Elektroschock – Merkblatt für Patienten?

Dr. Peter Lehmann schrieb am 12.11.2019 an EREPRO:  “Sind Sie interessiert an einem kritischen Artikel über Elektroschocks? Beispielsweise http://www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/gesundheit/aufklaerungsbogen-elektroschock.htm
Ja, wir weisen gerne auf diesen “Aufklärungsbogen Elektroschock” von Peter Lehmann hin, obwohl der wahrscheinlich den meisten der am Thema interessierten Mitarbeitern bekannt ist.
Es ist hilfreich, ihn zu haben, und uns gefällt an dem Bogen besonders, dass einige Bezeichnungen für Laien “übersetzt” wurden. Der Autor schreibt in dem Bogen: “In der »Patientenaufklärung« (zum Eletroschock, EREPRO) der Thieme Compliance GmbH macht man den Behandlungskandidatinnen und -kandidaten weis, bei (sogenannten) psychischen Erkrankungen verändere sich das Nervengewebe in bestimmten Teilen des Gehirns, bei den elektroschockbedingten Hirnveränderungen würde es sich vermutlich um eine Regeneration des Gehirns handeln – der Elektroschock gleichsam als Jungbrunnen, und bei einer Ablehnung von Elektroschocks würden sich die ursprünglichen Probleme verschlimmern. Manche psychiatrische Kliniken schreiben von günstiger Beeinflussung von Hormonen und Botenstoffen, Kontaktstellen der Nervenzellen würden vermehrt. ” … “Im Falle einer Verweigerung der Zustimmung zu Elektroschocks droht deren zwangsweise Verabreichung, eventuell sogar gegen den Wortlaut von Patientenverfügungen. Hier zeigt sich die Notwendigkeit, sich per Psychosozialer Patientenverfügung präzise zu äußern, ob man im Fall des Falles Elektroschocks egal welcher Variante verabreicht bekommen möchte oder ob man dies untersagt.”
Der Text des  Aufklärungsbogens – so wie die angeführten Materialien – wendet sich in erster Linie an Mitarbeiter in der Psychiatrie  und versucht sie zu einer kritischen Haltung gegenüber Elektroschocks zu befähigen bzw. sie zu bestärken. Gut und richtig.

Sachlich richtiges, verständliches Merkblatt für Patienten
Bei der Gelenheit wollen wir darauf hinweisen, dass wir immer wieder hören, den Elektroschock-kritischen Mitarbeitern fehlen in der Praxis  Materialien zur Patientenaufklärung, die auf Schönmalerei verzichten und für den normalen Bürger verständlich sind. Zur Unterstützung von Gesprächen, die Menschen in einer Depression gefangen, klar und übersichtlich kundig machen über die Probleme bei Elektroschocks. Ein Verfahren, das diesen verzweifelten Menschen  von  ihren Ärzten oft als sehr vielversprechend angepriesen wird. Zunehmend übrigens auch den leicht depressiven Patienten, die möglichst schnell den unangenehmen niedergeschlagen-ängstlichen Gemütszustand abstellen wollen.

Wo gibt es eine solche wahrheitsgemäße, lesbare Patientenaufklärung, die unvoreingenommen beschreibt, was bei einem Elektroschock gemacht wird,  und beispielweise die Stärke des Stromstoßes  durch bekannte Vergleichswerte illustriert. Unmißverständlich sollte das medizinische Nicht-Wissen über Wirkweise und Folgewirkungen im Gehirn eingestanden werden.  Vermutungen können weg bleiben. Ebenso verwirrende Aussagen wie die von Prof. Here Folkerts in dem NDR-Film “Visite – Elektrokrampftherape”:  er könne nicht in einem Satz sagen, warum EKT (Elektrokrampf Therapie) wirkt, das sei für ihn schwierig, auch wenn er nachschiebt, es sei nicht “endgültig bewiesen, warum EKT wirkt. Es muss auch eindeutig zum Ausdruck kommen, dass die Folgen des Schocks nicht vorhersehbar sind.
Patienten sollten aufgeklärt werden, dass Drohungen und falsche, erpresserische Ankündigungen von Folgen der Ablehnung der Schocks, wie oben zitiert, in der Behandlung von psychisch kranken Menschen keinen Platz haben – und unmoralisch sind. Die Freiwilligkeit dieser Behandlung (außer bei lebensbedohlichen Zuständen) wird ein solches Merkblatt betonen.
Nachdem die vorliegenden “evidenzbasierten Studien” wie häufig in der Psychiatrie wohl eher als zweifelhaft einzuschätzen sind, und es für diese Patienten, genau so wie für die meisten Mitarbeiter, ohnehin zu weit führen würde, ihre Relevanz im Einzelnen zu beurteilen, schlagen wir vor, in dem Merkblatt nur je eine knappe Falldarstellung mit positiven und eine mit negativen  Folgen – kurzfristig und langfristig – beispielhaft gegenüber zu stellen. Nach Erfahrungen mit umfassenden Patientengesprächen über Elektoschocks, besteht Gelegenheit diese Vorschläge für ein  Merkblatt zu modifizieren und zu ergänzen.
Patienten sollten übrigens immer darüber aufgeklärt werden, dass eine Depression ihre Zeit dauert – mit oder ohne Behandlung mit Antidepressiva oder Elektroschocks, und dass darum empfohlen wird eine entsprechende  Vorlaufzeit einzuhalten, und diese schwerwiegenden Eingriffe in das Gehirn nicht voreilig vorzunehmen.

Angesichts der Lobpreisungen des hochkarätigen Establishments der Ärzteschaft in der Psychiatrie sowie der finanziellen Unterstützung dieser Behandlungsform, erscheint es vielleicht naiv, “wahrheitsgemäße” Darstellungen auf einem EKT-Patientenmerkblatt zu erwarten, sagen wir darum vielleicht besser “Aussagen nach bestem Wissen und Gewissen”…
Man riskiert natürlich Patienten durch widersprüchliche “Informationen” zu verwirren, wir würden das in Kauf nehmen, statt einer falschen, irreführenden Beruhigung.
Auch der Wille depressiver Patienten , sich (nach gewissenhafter Aufklärung) trotzdem den Elekroschocks zu unterziehen ohne Ressentiments respektiert werden, denn nicht-depressive Menschen könnrn bekanntlich schwer nachvollziehen, wie absolut unerträglich eine schwere Depression sein kann.
Abschließend ein Zitat aus dem Positionspapier des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener (BPE) e.V. zur Elektrokrampftherapie o.D. “Auf keinen Fall darf EKT ohne ausdrückliche Zustimmung oder gar gegen den natürlichen Willen angewandt werden. Wir erleben, dass Menschen gesunden, wenn sie die Ursache ihrer psychischen
Krise/Erkrankung angehen, sich der Selbsthilfe anschließen und sich selbst die für sie passende Unterstützung besorgen bzw. menschliche Unterstützung erhalten.”

Lit.:
Peter Lehmann, Die Wiederkehr des Elektroschocks – Legitime Therapie oder verantwortungslose Schädigung? In:  BPE-Rundbrief Ausgabe 1/2019

Die Vergessenen Teil III – Haina

Immer wieder ist in den Kommentaren zu unseren beiden Artikeln über die “Vergessenen” im Maßregelvollzug die Rede von der Vitos Klinik Haina.
Wie zuletzt: “l am with you in Haina”…1
Wir wollten wissen, was ist eigentlich “Haina”?
Wikipedia sagt:
“Haina (Kloster) ist eine Gemeinde im nordhessischen Landkreis Waldeck-Frankenberg” mit 3455 Einwohnern.
Zur “Geschichte” des Ortes findet man dort das Foto eines Mahnmals mit diesem Text:
“Mahnmal der Euthanasie-Opfer auf dem Waldfriedhof der Gemeinde Haina(Kloster)” mit der Inschrift:
„Zur Erinnerung an die hilflosen Kranken, die in der Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945 hier starben. Ihr Tod ist uns Mahnung und Verpflichtung.“
“Das ehemalige Zisterzienserkloster in Haina” – so Wikipedia weiter – “ist eine der bedeutendsten gotischen Klosteranlagen Hessens….1527 wurde das Kloster durch Landgraf Philipp von Hessen aufgehoben und in ein Landeshospital umgewandelt.
Es wurde zu einem Hospital für arme Kranke, Gebrechliche und Blödsinnige des männlichen Geschlechts eingerichtet.” Wikipedia erwähnt dann 11 Namen der Mitarbeiter von 1863, aber über die Euthanasieverbrechen von vor nicht mal 80 Jahren findet sich nichts weiter, keine Namen, keine Zahlen.
“Im ehemaligen Kloster befindet sich heute ein psychiatrisches Krankenhaus nebst Psychiatriemuseum.,”

In dem Qualitätsbericht 2018 der Vitos Ambulanz für Forensik in Haina heißt es “Beschwerden gab es keine”.  In dem aufwendigen Qualitätsbericht der forensichen Klinik ist von Beschwerden nicht die Rede, während in einer Orthopädischen Vitos-Klinik  die Patienten um “Mitwirkung” gebeten werden im Rahmen eines Beschwerdemanagements.2

Verschweigt die Klinik die verzweifelten Beschwerden, die man bei EREPRO in den Artikeln und Kommentaren sowie an vielen  anderen Stellen im Internet lesen kann?
Ein Artikel über die Vitos Forensik Haina in der Frankfurter Rundschau mit dem Titel “Ein Gefühl völliger Entmachtung” sei stellvertretend für die vielen Klagen über Haina zitiert. Ein Journalist, Dennis Stephan, war versehentlich unschuldig für 4 Monate im Maßregelvollzug Haina und Gießen inhaftiert worden, und forderte später anlässlich der Anhörung zur Änderung des Hessischen Maßregelvollzugsgesetzes “Weg mit der unmenschlichen Zwangsbehandlung”. “Selbst die schlimmste Tat rechtfertigt nicht die Unterbringung im Maßregelvollzug”.
Seine “Geschichte, die, wie er sagt, mit einem kleinen Brand des Mülleimers in seinem Badezimmer begann”, gipfelte in einer 13-tägigen Einzelisolation in der Forensik. „In dieser Zeit habe ich keinen gesehen, außer Psychiatern und Pflegern.“ Denkt er zurück, kommt schnell die ganze Wut wieder hoch.“ Wut auf den Gutachter, der ihn zum „gefährlichen Straftäter“ erklärte, zum Brandstifter. „Er hat mich zehn Minuten im Leben gesehen, mich nicht aufgeklärt, und ich habe gesagt, dass ich nicht mit ihm reden will.“ Und wenn dieser Gutachter sich nicht während des Prozesses in Widersprüche verwickelt hätte, dann säße Stephan womöglich noch immer in Häftlingskluft hinter den hohen Betonwänden, untergebracht im Einzelzimmer.” Stephan berichtet aus der Klinik: keine Privatsphäre, Briefe und Telefonate kontrolliert, eine Stunde Hofgang. Er konnte allerdings ”in dem Prozess seine Interessen artikulieren, denn er stand nicht unter Medikamenten und war hellwach, als er vor den Richtern sprach. Die ganzen vier Monate lang hatte er es abgelehnt, sich therapieren zu lassen.” Er wußte, Psychopharmaka “machen schlapp und gefühllos.” „Man wird damit abgeschaltet.“ Dennis Stephan, ein Abgeordneter der Linken, ist überzeugt, „die Einweisung von gesunden Menschen ist Bestandteil des Systems.“
In unseren beiden Artikeln über die “Vergessenen” beschreiben wir viel schwerwiegendere Unmenschlichkeiten in Haina und den anderen hessischen Forensiken4:   Fixierungen, Isolation, d.h.Einsperren in kleinen Räumen, zwangsweises Verabreichen von Psychopillen sowie Verhinderung von Entlassungen mit  bis zu 30jährigem Freiheitsentzug, der zu der ursprünglichen Straftat in keinerlei Verhältnis steht, um einige der unmenschlichen Zustände zu nennen.

Am 1. Januar 2008 kam die Privatisierung der Klinik. Durch den Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen wurde zunächst die “LWV-Gesundheitsmanagement GmbH” als Holding gegründet. Im gleichen Jahr “richtete sich die Unternehmensgruppe neu aus”, und firmiert seit März 2009 als “Vitos GmbH”. Es handelt sich um gemeinnützige Klinikgesellschaften. Der Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen ist Alleingesellschafter der Vitos GmbH. Der LWV ist ein Zusammenschluss der hessischen Landkreise und kreisfreien Städte, dem soziale Aufgaben übertragen wurden.
Insgesamt verfügt der Konzern über 6200 Betten und Plätze. Das jährliche Umsatzvolumen beträgt ca. 648 Mio. Euro. Etwa 9.700 Mitarbeiter behandeln und betreuen jährlich etwa 43.000 Patienten stationär/teilstationär und 173.000 Patienten ambulant. Vitos ist in Hessen an ca. 60 Standorten vertreten. (…) Vitos Haina betreibt heute ein Fachkrankenhaus, das alle psychiatrischen Krankheitsbilder des Erwachsenenalters behandelt – mit angegliederten teilstationären und ambulanten Angeboten, Einrichtungen für chronisch psychisch kranke Menschen, sowie eine Klinik für forensische Psychiatrie und die hessenweit einzige forensisch-psychiatrische Ambulanz.
Vitos Haina beschäftigt rund 1.000 Mitarbeiter an den Standorten Haina, Gießen, Korbach, Kassel, Schotten und Eltville.

Auf der Startseite des Webauftritts des  Alleingesellschafters von Vitos, des Landeswohlfahrtsverbands Hessens, ist ein Gedenkstein zu sehen:

Seht den Menschen” – heißt es dort – “wir gedenken der Opfer der Psychiatrie im Nationalsozialismus während der Jahre 1933 bis 1945 in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Gießen. Die Nationalsozialisten raubten den hier lebenden psychisch Kranken, den geistig behinderten Menschen, den ‘Pfleglingen’ systematisch ihre Würde. Diese Menschen wurden diskriminiert, zwangssterilisiert, vernachlässigt, verschleppt und ermordet.”   Das ganze firmiert unter dem Titel: ” Geschichte und Gegenwart. Vergangenes dokumentieren”.

Man erstarrt, wenn man über diese Geschichte der Klinik im Nationalsozialismus erfährt, angesichts der massiven aktuellen Vorwürfe über die unmenschlichen Zustände in der Vitos Forensik in Haina.
Hätte sich diese Psychiatrische Klinik nicht besonders verantwortungsvoll für eine würdige und menschliche Behandlung hilfloser und diskriminierter Patienten einsetzen müssen als Konsequenz und Lehre aus den Verbrechen in der Vergangenheit vor Ort?
Zitate aus der Selbstdarstellung des Vitoskonzerns, die wie leere Worthülsen wirken müssen:
“Unsere Haltung. Wir handeln im Bewusstsein unserer Geschichte. Egal woher ein Mensch kommt, wer und wie er ist, wir begegnen ihm offen und wertschätzend. Wir nehmen jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit an und helfen ihm dabei, Ziele zu entwickeln und zu erreichen. Unsere Mittel setzen wir achtsam und zielgerichtet ein.
Unser Miteinander. Offen und respektvoll treten wir mit Menschen in Kontakt. Im Umgang miteinander sagen wir klar, was wir tun. Unser nachvollziehbares Handeln schafft eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Kommunikation ist unser wichtigstes Werkzeug. Damit bauen wir stabile Beziehungen auf. Wir reflektieren unser Handeln, lernen voneinander und erarbeiten gemeinsam Lösungen – wir pflegen eine offene Fehlerkultur.” 5
Fehlerkultur? Wie setzt sich der Konzern mit den gravierenden Hinweisen auf “Fehler” auseinander? Ist diese Mammut-Psychiatrie  überhaupt noch in der Lage, darauf zu achten, dass “der Mensch gesehen” wird?
Wer sich genauer mit den vielen Problemen und Beschwerden über die Forensik in Haina befassen will, lese die “Stellungnahmen zu der öffentlichen Anhörung zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung für ein Zweites Gesetz zur Änderung des Maßregelvollzugsgesetzes – Drucks. 19/1195 –  Teil 1-4, 2015 6
Auch hier finden sich  viele Klagen über Haina, und die entsprechende Mentalität der Mitarbeiter des Vitos Konzerns, besonders der Leitung der Forensik-Klinik, wird deutlich. Des frühere Klinikdirektor Dr. Müller-Isberner spricht von dem “schrecklichen Zustand” der nicht  “einsichtsfähigen” Patienten, “der mit der Menschenwürde regelhaft unvereinbar ist.”6
Ärztliche Direktorin wird 2017 die bisherige Stellvertreterin Dr. Beate Eusterschulte. Der Wechsel bringt keine wesentliche Änderung in den Auffassungen, da sie seit 2001 an der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Haina tätig ist. Sie hat 2019 eine Festschrift herausgegeben mit dem Titel “Forensische Psychiatrie zwischen Wissenschaft und Praxis”. Klingt honorig.
Aber in der mit 1 Punkt bei  Amazon bewerteten Rezension dieses Buches7  von Tom Simon heißt es:  “Aus beruflichen Gründen kenne ich viele Erfahrungsberichte, und die Inhaftierten der Vitos-“Kliniken” berichten von folterähnlichen Zuständen, monatelanger Isolationshaft, willkürlichen Strafmaßnahmen, zahlreichen Verstößen gegen Menschenrechte, fehlenden medizinisch notwendigen Ausschluss-Anamnesen, juristisch fragwürdigen Behandlungszwängen (“Entweder du nimmst die ‘Medikamente’ oder du kommst in Isolation!”), krank machender polypharmazeutische Behandlung, schlecht ausgebildeten Mitarbeitern mit Eskalationstaktiken, Suiziden während und nach der “Behandlung”, ungeklärten Todesfällen, mangelndem Rechtsbeistand, wahnwitzigen Fehldiagnosen und vielem mehr. Vielleicht irren die sich auch alle, vielleicht sind das, was als Folter beschrieben wird, in Wahrheit nur “optische, akustische und taktile Halluzinationen”, aber die Fülle an Berichten über Missstände in den Vitos-Forensiken ist überwältigend. Da die Opfer der Vitos-Forensiken im Buch nicht zu Wort kommen, empfehle ich dringend, einfach mal Dr. Google nach den Stichworten “Forensik & Vitos” zu befragen. Das Lügengebäude dieser “Festschrift” fällt dann schnell in  sich zusammen.”

Nochmal: würde es nicht der Anstand gebieten, der Freiheit und dem Wohlergehen  der Psychiatriepatienten in diesen psychiatrischen Kliniken größten Vorrang vor allen anderen Zielen einzuräumen in Anbetracht der schrecklichen Euthanasieverbrechen gerade in Haina?
Das würde als Konsequenz auch eine Klinik-Privatisierung – mit dem primären Ziel der Gewinnmaximierung – ausschließen.
Sie  sind der Meinung, diese Zusammenschau sei unzulässig?
Menschenrechtsverletzungen sind für die Betroffenen immer verhängnisvoll. Weil eine Grenze überschritten wurde, und ihr Schutz nicht mehr gewährleistet ist, auch wenn sich Art und Ausmaß der Gefährdungen unterscheiden, können sie sich im Prinzip und praktisch  bis zur Tötung steigern.
Wir gehen noch weiter und sind der Auffassung, die Euthanasie-Geschichte mit 300 000 Opfern von Menschen mit psychischen Problemen, an der viele Kliniken deutschlandweit beteiligt waren8, schließt einen Maßregelvollzug und forensische Psychiatrie generell aus, und verlangt eine “normative Neustrukturierung des Hilfe-Rechts für psychisch kranke Personen. Nur so lassen sich zukünftig Diskriminierungsverbote des Grundgesetzes und der UN-Behindertenrechtskonvention rechtssicher gestalten.” – wie es der Jurist und Theologe Heinz Kammeier in einem Vortrag vor der Hamburger Gesellschaft für soziale Psychiatrie formuliert hat. Nämlich, dass die Psychiatrie sich vom Sicherungsauftrag verabschiedet und nur noch den behandelt, der behandelt werden will.  (s.u.) “Bei Gefahr sind Staat, Justiz und Polizei zuständig. Dafür sei ein neues, eigenständiges Vollzugsrecht nötig. An den Staat zurück delegierte Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung müssten sich allein auf gefährliche Handlungen beziehen. Auf die kausale Verbindung mit psychischer Krankheit würde verzichtet”.9

Diese Forderung nach Verzicht auf eine kausale Verbindung von psychischer Störung und gewalttätigem Verhalten wird auch in der UN-Behindertenrechts konvention10 unterstützt und ist maßgebend für alle Forderungen nach Aufhebung des § 63 der Strafprozessordnung. Dass psychische Erkrankung und Gewalttätigkeit ursächlich zusammenhängen, kann wissenschaftlich nicht  nachgewiesen werden. Die Äußerungen der Klinikleitung der Haina Forensik in den “Stellungnahmen” legen es allerdings nahe, dass dieser Zusammenhang dort durchaus als gegeben angenommen wird.

Die Angst der Mitarbeiter vor einer möglichen Aggression der Patienten muss natürlich ernst genommen werden, sollte aber auch nicht unangemessen groß sein. In Haina geht man von 85% gefährlicher Patienten aus, das ist ein besonders hoher Prozentsatz. Sehr ängstliche Menschen sollten nicht in der Forensik arbeiten.
Man kann aber auch Menschen, die gefählich sind, mit Würde behandeln.

So waren die altehrwürdigen Mauern dieses gotischen Zisterzienserklosters gleich zweimal im Abstand von 70 Jahren Schauplatz von Menschenrechtsverletzungen, von Qual  und Verzweiflung vieler Menschen, die Hilfe gebraucht hätten, wobei man erwartet hätte, dass sie weihe- und würdevoll unsere Jahrhunderte alte “christliche Werteordnung” repräsentieren, auf die wir uns gerade in letzter Zeit häufig berufen.

Was tun – bei “jährlich mehr als 350.000 Menschen In Deutschland  (Patienten, deren Angehörige und professionelle Mitarbeiter) in der Erwachsenen-Psychiatrie, die von Gewalt und Zwangsmaßnahmen (Zwangsfixierung, Zwangsmedikation, Isolierung) betroffen sind”?11
 Am Vorabend der Jahrestagung 2019 der DGSP lädt die Stiftung für Soziale Psychiatrie ein zum Thema “Wie gehen wir angemessen mit Missständen in psychiatrischen Institutionen um – wahrnehmen, resignieren, wegschauen oder aufschreien?”.
“Ändern” ist wohl (noch) nicht vorgesehen…

Aufzeigen der Missstände ist sicher ein erster Schritt, aber welcher kann folgen?
Tatsächlich sind wir weit entfernt davon, “Verantwortliche” haftbar machen zu können. Dafür sind die Meinungen zu Zwangsmaßnahmen in der psychiatrischen Fachwelt viel zu kontrovers, auch wenn die Rechtsprechung immer eindeutiger die Menschenrechte der “Vergessenen” unterstützt.
Kontrollieren” könnte dem Ändern vorgeschaltet werden.
1. Fachaufsicht
Der Experte Rechtsanwalt Marschner weist darauf hin, dass das Verfassungsgericht vor Zwangsmaßnahmen eine vorherige externe Kontrolle fordert – auch im  Maßregelvollzug. Er hält es für problematisch diese einer Fachaufsicht zu übertragen: “Vorzugswürdig ist daher die obligatorische vorherige gerichtliche Kontrolle. Insoweit würde auch keine Schlechterstellung gegenüber nach Betreuungsrecht untergebrachten Patienten bestehen.”6
Ganz anders äußert sich die Direktion der Haina-Klinik, die sogar die Fachaufsicht ablehnt – für die Psychiater. “Das Weisungsrecht der Fachaufsicht ( sollte sich) explizit nicht auf die ärztliche Therapiefreiheit bezieh(en)”. “Zustehendes ärztliches Ermessen” und “nicht in die ärztlichen Pflichten eingreifen”,  sind Stichworte der Klinikdirektoren in Haina, insbesondere von Herrn Dr. Müller-Isberner, früherer Direktor der Forensik.12
Mit dieser überholten Vorstellung vom “Halbgott in Weiß” stehen  die beiden Psychiater aus Haina sicher nicht allein. Fehlerkultur geht jedoch anders. Leider erfährt zur Zeit das Bild des Arztes als unfehlbare Autorität eine fatale Renaissance.13

2. Foensikbeirat
Diese unregelmäßig tagenden Beiräte gibt es bereits. Sie werden von der Klinikleitung Haina favorisiert. “Dem Forensikbeirat gehören neben Vertretern der Parlamentsfraktionen, Kirchen, Polizei und Presse auch einige Bürger an. Die Leitung der jeweiligen forensischen Klinik nimmt an den Sitzungen des Forensikbeirats teil und hat dort ein Vortragsrecht.”14

3. Besuchskommissionen.
Aus einer Stellungnahme des hessischen Angehörigen-Verbandes: “Ebenso halten wir die Berufung von Besuchskommissionen, die es schon in vielen anderen Bundesländern gibt (…)  für unverzichtbar. Angesichts der Möglichkeiten von Eingriffen in die Grundrechte wie u.a. die Zwangsbehandlung ist eine effektive externe Kontroll- und Beschwerdeinstanz erforderlich. Diese sollte auch für die betreuungsrechtliche Unterbringung nach § 1906 sowie auch für alle anderen psychiatrischen Einrichtungen –ambulant oder stationär – zuständig sein.”15
In den Kommentaren zu den “Vergessenen” bei EREPRO geht es immer wieder darum, wie unwirksam die Kontrolle des Maßregelvollzugs durch viel zu selten einberufene Besuchskommissionen ist. Der Klinikdirektor Dr. Müller-Isberner hält sie für überflüssig.

Offensichtlich ist Kontrolle von außen in den Vitos Kliniken Haina eher unerwünscht.

In dem Zusammenhang kommen wir abschließend noch einmal auf die Vorschläge von Psychiatrierechtler Dr. Heinz Kammeier (Münster) mit einem etwas ausführlicheren Zitat zurück. “Vor 30 interessierten Personen aus Fach- und Gesellschaftsöffentlichkeit schlug Kammeier zwei mögliche Optionen zur Neustrukturierung des Landes-Psychiatrierechts an  (…) Für die kleine Variante, die sich am Vorbild Berlin orientieren kann, sehe dies u.a. ‘die Stärkung der vorhandenen Hamburger Besuchskommission, durch partizipative Besetzung mit Betroffenen-Vertretern und Ausstattung mit wirklicher Kontrollbefugnis vor.’ (Hervorhebung von uns)
Für die HGSP e.V. zeigt der gestalterische Weg aber eindeutig in die Richtung der von Kammeier vorgeschlagenen ‘Normativen Neustrukturierung des Hilfe-Rechts für psychisch kranke Personen’. Nur so lassen sich zukünftig Diskriminierungsverbote des Grundgesetzes und der UN-Behindertenrechtskonvention rechtssicher gestalten. Dies beinhalte den ‘Schutz vor Selbstgefährdungen ausschließlich auf Grundlage des Betreuungsrechts vorzunehmen sowie Maßnahmen zum Schutz vor Gefährdungen dritter Personen ausschließlich auf die Gefährdungshandlungen zu beziehen und auf die kausale Verbindung mit psychischer Krankheit zu verzichten.’ Kammeier verdeutlichte vor dem Hintergrund juristischer Expertisen, dass diese große Variante eine deutliche Änderung des jetzigen Unterbringungsrechts erfordere und dieses neue Vollzugs-Recht für diese Art von Sicherung ein eigenständiges Recht sein muss. ‘Das PsychKG in seiner jetzigen Form wäre somit obsolet!’, so Kammeier.”9

Gesetze und  Gerichtsurteile haben schon viel geholfen, den Weg zur Beachtung von Menschenrechten im Maßregelvollzug zu ebnen.
Auf Fortbildung für Mitarbeiter in der Forensik (vielleicht sogar für die Psychiater!) zu setzen, ist ebenfalls vielversprechend.16

 

Anmerkungen
1 https://www.erepro.de/2018/07/28/psychiatrie-massregeln-mit-mass/
2 https://www.vitos.de/gesellschaften/vitos-haina/downloads
Patientenfürsprecher würden wir nicht als Kontrollorgan betrachten. Es gibt in der Forensik Haina einen, wobei 2011 auch von einem Rücktritt die Rede war wegen verweigerter Akteneinsicht trotz Schweigepflichtsentbindung (https://www.giessener-allgemeine.de/kreis-giessen/lich-ort848773/patientenfuersprecher-hoert-frustriert-12101396.html).
“Sprechzeiten alle 14 Tage hält Patientenfürsprecher Johannes Mayrl an der Klinik für forensische Psychiatrie Haina (Kloster) ab, dies habe sich bewährt und ein Kontakt zu den Patienten könne gut aufgebaut werden.”
https://www.landkreis-waldeck-frankenberg.de/city_info/webaccessibility/index.cfm?waid=172&modul_id=2&record_id=104433
und
https://www.vitos.de/gesellschaften/vitos-orthopaedische-klinik-kassel
3 https://www.fr.de/rhein-main/ein-gefuehl-voelliger-entmachtung-11053126.html
4 https://www.erepro.de/2018/04/17/die-vergessenen/   und
https://www.erepro.de/2018/07/28/psychiatrie-massregeln-mit-mass/
5 https://www.vitos.de/ueber-uns/was-uns-kennzeichnet/werte-und-leitbild
6http://starweb.hessen.de/starweb/LIS/servlet.starweb?path=LIS/PdPi_FLMore19.web&wp=WP19&search=DESKRF%3D%22PSYCHIATRISCHES+KRANKENHAUS%22+AND+%28%28DESKRF+NOT+%22%22%29+OR+%28VDESF+NOT+%22%22%29%29+AND+NOT+NOWEB%3DX
7 https://www.amazon.de/Forensische-Psychiatrie-zwischen-Wissenschaft-Praxis/dp/3954664259
8http://www.erepro.de/2014/05/12/300-000-menschen-mit-besonderen-belastungen-getotet/
9 https://www.dgsp-hamburg.de/service.html,
HGSP_Pressemitteilung_PsychKG_1212.2018.pdf)
10 https://www.behindertenrechtskonvention.info/
11 https://www.pipp.pro/
12 “Aufgrund des zustehenden ärztlichen Ermessens ist die hier angedachte Weisungsmöglichkeit durch die Fachaufsicht – zumindest im Wortlaut – bedenklich, da so in die ärztlichen Pflichten eingegriffen werden kann. Die Aufsichtsbehörde kann zwar nach 36 I HMRVG (Entwurf) i.v.m. 62 I HStrVollzG – zur Erfüllung ihrer Aufgaben – Daten abrufen, allerdings erscheint dann eine darüber hinausgehende Weisungsmöglichkeit in Behandlungsabläufe im Hinblick auf das ärztliche Ermessen sehr bedenklich.” Aus den “Stellungnahmen”, siehe Anmerkung 6
13 s.beispielsweise der Widerstand der Ärzte gegen das neue Psychotherapeutenausbildungsgesetz von Gesundheitsminister Jens Spahn
14 Vitos_Forensibeiratsbericht_2015-2016_red.pdf
15 Ausschussvorlage SIA 19/24 eingegangene Stellungnahmen zu der öffentlichen Anhörung zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung für ein Zweites Gesetz zur Änderung des Maßregelvollzugsgesetzes – Drucks. 19/1195 –9
16 Was ist ASBK.PIPP? In den Angeleiteten Selbstbeforschungskursen (ASBK) werden die Entstehung, Vermeidung und Prävention von psychiatrischen Gefährdungssituationen mittels psychodramatischer Techniken und ExpertInnen-Fokusgruppen untersucht. Die in Gefährdungssituationen involvierten AkteurInnen können in den Selbstbeforschungskursen ihre eigene Praxis reflektieren, Gefährdungssituationen re-aktualisieren, Themen für die Forschung setzen, den Forschungsprozess überprüfen und erhalten praktische Anleitungen zur Reduktion von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie. Die Kurse werden gefilmt und anschließend nach einem Arbeitsprogramm im Bereich srzp.pipp.pro ausgewertet.”
https://asbk.pipp.pro/

Die Vergessenen Teil II Psychiatrie: Maßregeln mit Maß??

Immerhin – man spricht über sie –  wenn auch in bescheidenem Rahmen und hauptsächlich unter Betroffenen: 15 Kommentare zu unserem Artikel “Die Vergessenen” vom 17.4.2018 über Menschen, die psychiatrischen Zwangsmaßnahmen bis hin zum Maßregelvollzug ausgeliefert sind,  – das ist Rekord! Und ein Leser hat uns in seinen Mail-Verteiler aufgenommen, sodass wir Zeugen der dortigen Debatte über das Thema wurden.  Zusätzlich berichten wir hier über weitere wichtige Neuigkeiten zum Thema.

1.  Zunächst stellen wir Übereinstimmung fest über großen Verbesserungsbedarf bei Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie und im Maßregelvollzug bei allen (sehr verschiedenen) gesellschaftlichen Gruppen, die damit zu tun haben. Das sind nicht nur Psychiatrieerfahrene und ihre Angehörigen, sondern auch Rechtsanwälte, Psychiatriegutachter, Psychiater, Medienvertreter und Politaktivisten  – bei allerdings sehr unterschiedlicher Ausdrucksweise: Die Rede ist von “qualvollen Unterwerfungsritualen”, “menschenunwürdigen Zuständen, die bekannt sind”, “folterähnlichen Zuständen”, “kriminellen Handlungen”, “Erfordernis absoluter Anpassung” im Maßregelvollzug. Entzug telefonischer Kontakte zur Familie, Verbot persönlicher Hygiene, Nichtbeachten des persönlichen Willens werden beklagt. Vieles werde unter den Teppich gekehrt.
Kooperation sowie Information seien unzureichend, Fragen werden nicht gestellt zum besseren Verständnis des Patienten, es gebe kaum Recherche in seinem Interesse, keine Diskussion über mögliche Missverständnisse bei der Einschätzung der Person, was absolut geboten wäre angesichts der gravierenden menschlichen Folgen einer Fehleinschätzung, die bis zur Zerstörung eines ganzen Lebens gehen können. (s.u.)

Die Verhältnismäßigkeit zwischen Straftat und Aufenthaltsdauer wird im Maßregelvollzug häufig nicht gewahrt – eine der  schwersten Menschenrechtsverletzungen.
Die in der Diskussion vielfach kritisierte Vitos Klinik, eine halb-private forensische Klinik in Haina und Gießen, musste nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 10.1.2013 seit 2013 dreißig Patienten entlassen, weil die Richter die Maßregeln wegen fehlender Verhältnismäßigkeit aufgehoben hatten.
Die bloße Möglichkeit zu­künftiger rechtswidriger Taten vermag die weitere Maßregelvollstreckung nicht zu rechtfertigen (BVerfG …). Bei der Frage, ob eine Unterbringung als lang an­dauernd anzusehen ist, ist die Dauer der Freiheitsentziehung mit den Anlasstaten und mit möglicherweise anderen im Falle einer Freilassung zu erwartenden Taten abzuwägen (BVerfG …)”,
so die Entscheidung des OLG Hamm 2013.
Konkret ging es dabei um diesen Patienten: Ein Mann aus der Gruppe der Sinti, wegen räuberischen Diebstahls, sexuellen Missbrauchs eines Kindes sowie versuchten sexuellen Missbrauchs eines Kindes verurteilt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren mit angeordneter Unterbringung gemäß Paragraph 63 StGB sei freizulassen wegen fehlender Verhältnismäßigkeit trotz Fortbestehens der Rückfallgefahr, wenn die Unterbringung im Maßregelvollzug bereits mehr als 24 Jahre andauere (hervorgehoben von EREPRO), und die verbleibende Rückfallgefahr durch Auflagen und Weisungen im Rahmen der Führungs- und Bewährungsaufsicht gemindert werden könne, so dass mit der Entlassung ein vertretbares Risiko eingegangen wird.1 Das ist für manche Bürger sicher harter Tobak.

Man bekommt den Eindruck, dass in der forensischen Psychiatrie Psychotherapie im engeren Sinne oder gar “Soteria” (Begleitung von Menschen in psychotischen Krisen mit möglichst geringer neuroleptischer Medikation)  Fremdworte sind. Es wird sogar beklagt, dass man gar nicht mit den straffällig gewordenen Patienten rede. Der Mensch werde “ignoriert hinter den Bezeichnungen”.

Ein Mitglied des Bundesverbandes der Psychiatrieerfahrenen berichtet in den Mails, dass  1.100 Psychiater mit staatlichem Gewaltmonopol  “beliehen” seien, und damit ohne richterliche Anordnung und Gerichtsentscheidung Zwang ausüben können. Das alarmierte uns:
So einfach ist es aber nicht! Wir stellten fest, dass infolge der Privatisierung psychiatrischer Kliniken bereits in verschiedenen Bundesländern Regelungen erlassen wurden, private Träger mit hoheitlichen Aufgaben psychiatrischer Kliniken zu beleihen. Verfassungsrechtlich ist das nicht unumstritten.
Das führt zu der Grundsatzfrage:
Sollten Psychiatrische Kliniken überhaupt privatisiert werden und Trägern mit Gewinnmaximierungsabsicht  überlassen werden? Die massive Kritik an der privaten Vitos Klinik in Haina und Gießen legt eine negative Antwort nahe. Denn welchen Stellenwert haben für diese Geschäftsleute humanitäre Werte?2

2.  Maßnahmen, welche die Missstände im Maßregelvollzug  korrigieren könnten.
Die begutachtenden Psychiater nehmen ihre enorme Macht  nicht immer verantwortungsbewusst wahr. Mehr Kontrolle der gutachterlichen Ergebnisse wird deshalb wie ein Mantra gefordert.

Die unzureichende Qualität der psychiatrischen Gutachten wird unter anderem auch auf persönliche Probleme der Psychiater zurückgeführt.
Interessant ist dazu eine SWR-Sendung vom 28.6.2018  “Planet Wissen” mit einem psychiatrischen Gutachter, Titel “Verrückte Gutachten, wenn Menschen entmündigt werden.” Kritische Aussagen auch hier. Von “Schlechtachten” ist die Rede als maßgeblicher Fehlerquelle, von eigentlich notwendigen “Befangenheitchecks” für  die begutachtenden Psychiater, die selten durchgeführt werden, aus Angst Aufträge zu verlieren. Eine Psychiaterin berichtet in der Sendung über die Auswahl der Gutachter je nach gewünschtem Ergebnis.3

Die Forderung nach obligaten Zweitgutachten, die gesetzlich vorgeschrieben werden könnten, würde wohl die Zustimmung (fast) aller am Maßregelvollzug beteiligter Gruppen finden. Das wirft jedoch Probleme der Finanzierung auf.

Könnte das Rückgängigmachen der Privatisierung psychiatrischer Kliniken  den Maßregelvollzug verbessern? Das war immer eine Forderung von EREPRO. Matthias Seibt von dem Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen (BPE) weist jedoch darauf hin, dass alle Ärzte und Psychiater gewinnorientiert arbeiten, nicht nur die in den privaten Kliniken des Maßregelvollzugs, dass es also keinen großen Unterschied mache zwischen privater und öfffentlicher Trägerschaft der Psychiatrie-Kliniken.4

1986 waren noch dezentralisierte forensische Übergangseinrichtungen in NRW vorgesehen zur Eingliederung der Patienten in ihr Lebensumfeld und in die Gemeinschaft nach Beendigung der Unterbringung.  Diese Planungen wurden ersatzlos gestrichen.5

Gesetzlich vorgeschriebene Besuchskommissionen sind Kontrollorgane, die Missstände aufdecken könnten. Sie tagen – so wird berichtet – oft seltener als  in dem gesetzlich vorgeschriebenen Rhythmus, der sowieso schon von vielen als nicht ausreichend angesehen wird. Patienten verzichten wohl häufig darauf, mit der Besuchskommission zu sprechen, aus Angst vor Repressalien wie der Aufhebung von sogenannten “Lockerungen”, wobei unklar ist, wieweit die Kommissionsmitglieder überhaupt den Kontakt zu den inhaftierten Patienten suchen. Es sei fraglich, “auf welcher Seite die stehen”.
Eine Leserin hat uns dazu ein aufschlussreiches Video geschickt: https://www.facebook.com/kleiner.onkel.73/videos/814197618621835/

Ein Leser mit eigener Psychiatrieerfahrung ist bereit, in einer Besuchskommission im Maßregelvollzug mitzuarbeiten, weiß aber nicht recht, wie er dabei vorgehen soll. Vorschläge dafür reichen von der Aufforderung erst einmal einen Verein zu gründen bis zum Hinweis, mit dem hessische Ministerium für Soziales  und Integration Kontakt aufzunehmen, von dem andere sagen, dass sie dieser Institution “völlig  machtlos gegenüberstehen”. Auch er hatte dort keinen Erfolg. Er schreibt, ein Mitglied einer Besuchskommission, antwortete – darauf angesprochen – lapidar “Wenden Sie sich an die Presse”.
Die Berichterstattung über den Maßregelvollzug in den Medien wurde übrigens eher positiv beurteilt.

Auch Verbandsvertreter von Psychiatrieerfahrenen nehmen an den Besuchskommissionen  teil, was von einem Mitglied des Verbandes (BPE)  für einen Fehler gehalten wird.
Man verfüge im BPE über “keine Mittel gegen das System vorzugehen”, und habe nur sehr bedingt Einblick in den Maßregelvollzug, sei darum für Gerichtspsychiatrie-Erfahrene nicht zuständig. Der Mann sieht die Menschenrechtsverletzungen dort durchaus, “dass es so etwas tatsächlich gibt und zwar legal abgesichert”, ohne dass er solidarisch der Ausgrenzung dieser Menschen entgegen wirken will.

Von dem “ extremistischen Berliner Verband der Psychiatrieerfahrenen” distanzieren sich übrigens diese hessischen PE , insbesondere wegen seiner “reißerischen Formulierungen”, die angeblich denen der Sekte Scientology ähneln.
Dazu muss man wissen, dass sich diese Sekte seit Jahrzehnten mit ihrer “Kommission für Verstöße gegen Menschenrechte in der Psychiatrie” engagiert, wobei es ihr wohl vorrangig um Mitgliederwerbung geht.

EREPRO lag also wahrscheinlich falsch mit der Annahme, der Verband der Psychiatrieerfahrenen könne die Interessen der vergessenen Menschen im Maßregelvollzug vertreten.

Unter dem Motto “Es gibt nichts Gutes, außer man tut es” fordert eine Diskussionsteilnehmerin uns Bürger auf, Patienten auf den geschlossenen Stationen psychiatrischer Kliniken zu besuchen und mit den zwangsbehandelten Menschen zu reden.
Das entspricht auch einem großen Anliegen von EREPRO. Erfahrungsberichte dazu finden Sie auf dieser Homepage, insbesondere von Angelika Kurella: https://www.erepro.de/2016/11/18/gespraech-ueber-gefesselte-auf-geschlossener-psychiatrischer-station/.
Diese Besuche – so die Hoffnung – könnten zu mehr Transparenz psychiatrischer Arbeit beitragen und mehr öffentliche Aufmerksamkeit  ermöglichen für die teilweise unmenschlichen Zustände dort.
Den Vergessenen im Maßregelvollzug hilft dieser Vorschlag allerdings wenig, da der Zugang für Besucher in forensischen Kliniken schwierig ist.

Wir möchten noch kurz auf einen aufschlussreichen Artikel in den Sozialpsychiatrischen Informationen 3/2018, S.37 hinweisen, von einem Vertreter des Bayerischen Angehörigenverbandes, Karl Heinz Möhrmann, der in einem Beitrag fragt, “Wer vertritt die Interessen zwangsuntergebrachter Menschen in der Psychiatrie?” Zu den traditionellen Möglichkeiten der Interessenvertretung, die auch in dem EREPRO Artikel erwähnt wurden (Patientenfürsprecher etc.), nimmt er kritisch Stellung, favorisiert jedoch eine Einrichtung wie die österreichische Patientenanwaltschaft, die bei allen (unfreiwilligen) Unterbringungen von Amts wegen aktiv wird, und vor allen Dingen unabhängig und weisungsungebunden ist. Denn Patienten im Krisenzustand sind kaum in der Lage, sich aktiv um Anfragen bei Rechtsanwälten zu kümmern oder Interessenvertreter zu beauftragen.
Auch wenn der deutsche Verfahrenspfleger, der von EREPRO empfohlen wurde, die größte Nähe zum österreichischen Patientenanwalt aufweise, sei sein Nutzen viel geringer. So werde er beispielsweise nicht bei einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung eingeschaltet.
Mörmann weist auch darauf hin, dass erst nach dem Fall Mollath in Nordrhein-Westfalen und Bayern durch die Einrichtung von Maßregelvollzugs-Beiräten und Fachaufsichtsbehörden oder Beschwerdestellen Ansprechpartner für die gegen ihren Willen untergebrachte Menschen und ihre Angehörigen geschaffen wurden.6
Für die öffentlich-rechtlich Zwangsuntergebrachten gebe es also jetzt eine Aufsichtsbehörde, während diese für die zivilrechtlich (durch rechtliche Betreuer) untergebrachten Menschen fehle.
Die Anregung des Autors, in dem neuen bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz Assistenzen für Menschen mit seelischen Behinderungen vergleichbar der österreichischen Patientenanwaltschaft einzuführen, sei auf Unverständnis und Desinteresse gestoßen unter Hinweis, dass hierfür der Bundesgesetzgeber zuständig sei.

Der Deutsche Ethikrat hörte am 24.2.2017 Sachverständige zum Thema “Zwang in der Psychiatrie” an. Es war die größte Anhörung, die der Ethikrat je durchgeführt hat.”7

Juristisch ist in den letzten Jahren einiges korrigiert und im Interesse der Patienten geregelt worden. Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Das Verfassungsgericht hat am 24.7.2018 geurteilt, dass eine Fixierung in Zukunft nicht ohne einen richterlichen Beschluss durchgeführt werden darf, wenn sie “absehbar nicht weniger als eine halbe Stunde dauert, (dann) reicht die Anordnung eines Arztes nicht aus.”8
Die Bundesländer müssen ihre Regelungen dementsprechend ändern. Das ist natürlich ein Riesenschritt in Richtung auf mehr Humanität in der Psychiatrie.
Wolfgang Janisch schreibt in der SZ vom 25.7.2018, es gehe darum, “dass der Rechtsstaat den Fuß in der Tür der geschlossenen Psychiatrie hat, in der – so heißt es im Urteil – Patienten ‘in eine Situation außerordentlicher Abhängigkeit’ versetzt seien. Grundrechte verdorren leicht in abgeschlossenen Welten”. “Durch überforderte Mitarbeiter, durch ‘nicht aufgabengerechte Personalausstattung’ oder schlicht durch Betriebsroutinen und ‘Eigeninteressen der Einrichtung’” (die Zitate im SZ-Zitat sind die Worte des Gerichts).
Ein Richtervorbehalt ist in der Psychiatrie nicht neu und kein Allheilmittel, aber – so Janisch – “dem Psychiatrie-Urteil merkt man das Bemühen der Richter an, diesen Richtervorbehalt zum effektiven Instrument zu  machen.”

Heribert Prantl legt in der Süddeutschen Zeitung vom 24.7.2018 nahe, dass sich mit dem neuen Urteil des Bundesverfassungsgerichtes die Situation für “Schutzbedürftige” sehr zum Besseren ändern werde.

Unter dem Titel “Kein starkes Urteil aus Karlsruhe” wird in überzeugender Argumentation die Enttäuschung des Verbandes der Psychiatrieerfahrenen (BPE) über das Verfassungsgerichtsurteil zur Fixierung dargelegt – von Gangolf Peitz (BPE-Newsletter 02.08.2018, www.bpe-online.de).
Vor allem, weil die Fixierung nicht als “Folter” klassifiziert wurde, sondern als eine legale Behandlungsmethode, die nur kontrollierter als bisher durchgeführt werden müsse.
Eine sehr konsequente, und damit notwendige menschenrechtliche Auffassung des BPE.

Es gibt ohnehin neben der Fixierung weitere Methoden, unbotmäßige Menschen mit Zwang (und ohne Richtervorbehalt) zu behandeln, wie Isolierung und Zwangsmedikation etc..

Wie viel Zwang im Umgang mit psychisch kranken Menschen angewendet wird und angewendet werden muss, hängt zum großen Teil von der Haltung und Einstellung der Mitarbeiter ab, von der Beziehung zu dem erregten Patienten, und dem bisherigen zwischenmenschlichen Umgang.
Das  könnten Gründe sein für die stark variierenden Prozentzahlen (von 1 – 12%) der zwangsbehandelten Klienten in den verschiedenen psychiatrischen Kliniken Deutschlands.9

Alle juristische Regelung nützt also wenig, wenn nicht eine “Kulturveränderung” eintritt, die “bei der Ausbildung von Ärzten und Pflegepersonal beginnen müsse”,  “um die ethische Urteilskraft zu schärfen, um ungerechtfertigte Zwangsmaßnahmen als solche zu identifizieren und möglichst zu vermeiden”, sagt der Theologe Bormann.10
EREPRO fügt dem hinzu, dass auch Richter, die über Zwangsmaßnahmen entscheiden, informiert und fortgebildet werden müssen über die wichtigsten, aber auch die unterschiedlichen Erkenntnisse der Psychiatrie zur Gefährlichkeit und Uneinsichtigkeit von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Auch dadurch kann die Macht von Psychiatern eingegrenzt werden.
Bei der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie, einem großen Fortbidlungsanbieter, fehlt es unserer Kenntnis nach bisher an Fortbildungsangeboten  für Richter.  Das Institut für forensische Psychiatrie der Charité in Berlin bietet Veranstaltungen zur psychiatrischen Fortbildung von Richtern an. Ebenso die Deutsche Richterakademie, wie “Psychiatrie und Strafrecht”. Inwieweit diese Angebote Richter in die Lage versetzen, mit der Kritik an Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie angemessen umzugehen, kann von hieraus nicht beurteilt werden.

Es muss dringend eine viel größere öffentliche Aufmerksamkeit auf die Tatsache von Menschenrechtsverletzungen in Psychiatrischen Kliniken und im Maßregelvollzug gelenkt werden, und die Zwangspsychiatrie aus dem Dunkel befreit werden, in dem Menschen vergessen werden.
Wir Deutsche schauen gerne auf andere Länder herab, in denen Menschenrechte verletzt werden und sprechen dort Ermahnungen aus:
Kehren wir aber auch vor unserer eigenen Tür! Dafür hat das Verfassungsgericht jetzt eine Voraussetzung geschaffen.
Ch. Kruse

 

Anmerkungen
1https://psychiatrietogo.de/2012/01/19/bundesverfassungsgericht-bestatigt-dass-private-trager-forensische-kliniken-betreiben-durfen/
https://openjur.de/u/600201.html
https://www.vitos-haina.de/nc/haina/service/aktuelles/article/vitos-klinik-fuer-forensische-psychiatrie-haina-entwichene-patienten-gefasst.htmlre.
Heinz Kammeier und Pollähne, Helmut, Maßregelvollzugsrecht, 2018,C 74-77
2 Sebastian Reinke, 2010, Privatisierung des Maßregelvollzugs nach Paragraphen 63, 64 StGB, Paragraph 7 JGG und der Aufgaben nach Paragraphen 81, 126a StPO : dargestellt am Beispiel des Brandenburger Modells.
https://books.google.de/books/about/Privatisierung_des_Ma%C3%9Fregelvollzugs_nac.html?id=XpuJYAX9HokC&printsec=frontcover&source=kp_read_button&redir_esc=y
Heinz Kammerer und Helmut Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 2018, C 74 – C77
3 www,planet-wissen.de/sendungen/sendung-entmuendigung-menschen-100.html
Mehr zum Thema bei EREPRO auf dieser Website “Wer darf begutachten?”
und  “Psychiatrische Gutachten unter zeifelhaften Umständen.”
4https://vielfalter.podspot.de/post/interview-mit-matthias-seibt-aus-der-sendung-vom-5-marz-2018/
5 Heinz Kammerer und Helmut Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 2018, C 74 – C77
6 s. Die Frage der Verhältnismäßigkeit,  Fachtagung in Irsee vom 10.12 2017.
Hier findet sich eine ausführliche Übersicht über die Novellierung des Paragraph 63 StGB.
7 www.ethikrat.org
8  Pressemitteilung des Verfassungssgerichtes zum Urteil über Fixierung  https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/bvg18-062.html;jsessionid=B3A69266EC15100F2356773C636D86D9.2_cid394
https://www.tagesschau.de/inland/psychiatrie-103.html
https://www.taz.de/Verfassungsgerichtsurteil-zu-Psychiatrie/!5523349/
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/96643/Bundesverfassungsgericht-erhoeht-Anforderungen-fuer-eine-Fixierung
9https://www.zwangspsychiatrie.de/2018/01/psychiatrische-fixierung-anhoerung-beim-bverf/
10https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/88839/Bundesverfassungsgericht-verhandelt-ueber-Freiheitsbeschraenkung-durch-Fixierung

Die folgenden drei Dateien wurden uns mit der Mail von J. Schön vom 3.1.2019 zugeschickt:

Die Vergessenen

Eine Leserin von “EREPRO NEWS” hat uns auf eine neue Ton-Bilder-Schau aufmerksam gemacht: “Pippi im Folterland. Über Zwang, Willkür und Isolation in der Zwangspsychiatrie.” Wir geben die Anregung weiter, da es unseres Wissens wenig entsprechendes, allgemein verständliches Informationsmaterial über Zwangspsychiatrie bzw. Maßregelvollzug gibt, und fügen einige Bemerkungen hinzu.
Zunächst ein kurzer Hinweis, was unter Maßregelvollzug zu verstehen ist. Es gibt in Deutschland zwei Möglichkeiten des Umgangs der Gerichte mit Straftaten: Strafe für Tatschuld einerseits, und andererseits Anordnung der Besserung und Sicherung für “schuldunfähige” Täter, die als “sucht- bzw. psychisch krank” diagnostiziert wurden.

In der Ankündigung der Ton-Bilder-Schau heißt es:
(Zitat) “240.000 Menschen werden jedes Jahr in Deutschland gegen ihren Willen psychiatrisch zwangsbehandelt. Solche Behandlungen haben es in sich. Es sind qualvolle Unterwerfungsrituale, bei denen die eine Seite alle Macht hat und die andere keine. Das geben die Chefs deutscher Kliniken selbst zu. Der Wille des Patienten würde gar nichts zählen, schrieb der Leiter einer forensischen Psychiatrie in einem Brief an die Vorsorgebevollmächtigte eines Gefangenen – und erteilte ihr Hausverbot. Auch andere Verbrechen geben die Täter*innen in Weiß offen zu: Wenn passende Medikamente fehlen, würden halt andere genommen. Die seien dann zwar nicht zugelassen, aber das mache nichts. Disziplinarmaßnahmen würden als Therapie verschleiert. 18 bis 25 Jahre kürzer würden Menschen leben, die über lange Zeit Psychopharmaka nehmen – in der Regel: nehmen müssen. Der Staat hat mit den geschlossenen Psychiatrien Räume geschaffen, in denen die Untergebrachten Freiwild sind. 359 Euro erhalten die Kliniken dafür pro Tag und Person. Die Klinikärzt*innen sitzen selbst vor Gericht und schreiben die Gutachten, die ihnen die Betten füllen. Über Fördervereine organisieren sie ein zusätzliches, undurchsichtiges Umfeld. Die Ton-Bilder-Schau des investigativen Journalisten Jörg Bergstedt gibt einen tiefen Blick hinter die Kulissen der Zwangspsychiatrie, dargestellt vor allem an Unterlagen, die aus den Psychiatrien selbst stammen. Den Abschluss bildet die Frage, wie eine Welt ohne Zwangsbehandlungen aussehen könnte – und was das alles mit Pippi Langstrumpf zu tun hat.
Die Ton-Bilder-Schau könnt Ihr gerne bei Euch zeigen – als Film oder Live mit Referent. Anfragen dazu sowie Korrekturen und Ergänzungen zur Ton-Bilder-Schau an saasen@projektwerkstatt.de.
Die Songs und Fernsehausschnitte dienen dem Beleg der Aussagen in der Ton-Bilder-Schau und zeigen, dass auch dort die Verbrechen der Psychiatrie ganz offen geschildert werden – auch von den Täter*innen.
Gewidmet der Kämpferin Eva Schwenk, die genau an dem Tag starb, als dieser Film fertig wurde. Sie hat, ausgebildet als Psychologin, stets ohne Karriere- und Geldinteressen für die Betroffenen gestritten – als Autorin (Fehldiagnose Rechtsstaat), Gegengutachterin, Besucherin und Unterstützerin in den Anstalten sowie auf viele andere Art und Weise.” (Ende des Zitats)

Mitarbeiter von EREPRO haben sich diese Ton-Bilder-Schau angesehen.1 Eine ganze Reihe von Aussagen finden sich auch auf der Homepage oder in den hilfe Blättern von EREPRO – ohne, dass wir uns alle Aussagen im einzelnen zu eigen machen.2
Wir sind also über die dargestellten Missstände in der Psychiatrie informiert, trotzdem war es schwer erträglich, damit so geballt konfrontiert zu werden. Mit Entsetzen hat EREPRO immer wieder über die Menschenrechtsverletzungen in der Zeit des Nationalsozialismus berichtet. Aber ist es nicht wichtiger, aktuelle skandalöse Verletzungen der Rechte von Menschen mit psychischen Problemen auch in unserer Zeit anzusprechen? Nämlich  dass sie – ausgelöst durch häufig dilettantische Gutachten von Psychiatern –  als “schuldunfähig” im Maßregelvollzug zwangsbehandelt werden. Dass sie dort verschwinden  und, wenn sie keine Angehörigen haben, die sich kümmern, nicht selten vergessen werden – auch von der Öffentlichkeit.3 Das verlangt die Beachtung und Verbreitung dieser Ton-Bilder-Schau.

Vielleicht wird in 70 Jahren4 –  also 2088 – wieder eine Ausstellung an einige dieser menschlichen Schicksale erinnern, sowie an die unseriösen, verhängnisvollen Gutachten und die entsprechenden Gerichtsbeschlüsse nebst darauf folgende jahrelange Zwangs-Klinikaufenthalte im Maßregelvollzug. Und die späteren Psychiater werden sich vielleicht dann auch wieder entschuldigen.

Auch wenn nicht alle Informationen in dieser Ton-Bilder-Schau unbedingt verallgemeinert werden können, so sind sie doch viel zu oft zutreffend.
In unserer eigenen psychiatrischen Arbeit in einem Sozialpsychiatrischen Dienst haben wir mehrere Beispiele erlebt von menschlichen Verhängnissen im Maßregelvollzug. Hilflos und ohnmächtig gegenüber den Entscheidungen der Gutachter und ihnen blind folgenden Gerichten blieb uns in keinem Fall anderes übrig als diese Menschen, die uns lange bekannt waren, regelmäßig in den meist weit entfernten Anstalten zu besuchen und mit ihnen zu diskutieren, sich in diesen Einrichtungen so angepasst wie möglich zu verhalten, um ihnen überhaupt irgendwann mal zu entrinnen. Und später – nach ihrer Entlassung – zu helfen, die Kontakte zu Selbsthilfegruppen in dem sozialpsychiatrischen Dienst und zu Freunden und Verwandten in ihrem Heimatort wieder herzustellen.

Der Versuch mit einem begutachtenden Psychiater, Klinikdirektor, der – im Gegensatz zu uns – einen straffällig gewordenen Klienten gar nicht kannte, um – nach Entbindung von der Schweigepflicht – über dessen “Ungefährlichkeit” ins Gespräch zu kommen, fand keinerlei Resonanz. Ernüchternd der Gedanke, dass der dabei bekannt gewordene jahrelange Kontakt  des Klienten mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst den Gutachter zu einer noch negativeren Prognose veranlasst haben könnte!!
“Kein Risiko eingehen” – diese Haltung bestimmte die gutachterlichen Aussagen.

Ängstlichkeit der Gutachter zwingt Menschen auf diese Weise jahrelang (u.U. auch lebenslang) ganz unabhängig von der Schwere seines Gesetzesverstoßes zu einem Leben hinter Mauern.

Die Situation im Maßregelvollzug ist für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, die Bagatellstraftaten begingen, oft derart unsäglich, dass darüber möglichst breit informiert werden muss – und sei es als Warnung vor den Gefahren in der Psychiatrie. Diese Ton-Bilder-Schau wurde dafür erarbeitet.
In einer etwas gekürzten Form ist sie durchaus für größere Schüler im Schulunterricht geeignet. Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung könnte eine ihrer Veranstaltungen In Berlin  damit bestreiten und bei der Verbreitung der Informationen helfen (gegebenenfalls auch mit Ergänzungen). In Volkshochschulen und Veranstaltungen vieler gesellschaftlicher Gruppen könnte die Schau präsentiert und diskutiert werden.

Aber was kann man noch tun, außer zu informieren?
Es gibt forensische Kliniken, die Patienten im Vorfeld (der Aufenthalt dort entspricht einer Untersuchungshaft)  noch einmal begutachten und untersuchen, um Fehleinweisungen zu verhindern.5 Ein Korrektiv für die Gutachten?

“Unterwerfungsrituale” hin oder her, dass in diesen Kliniken “eine Seite alle Macht hat und die andere keine”, ist unhaltbar. Darum die Frage: Wer vertritt die Interessen dieser fast vergessenen Personengruppe? Bei der Google-Suche kommt als Antwort: die Verbände der Psychiatrieerfahrenen. Sie empfehlen, in erster Linie  sich vor der Psychiatrie durch eine Patientenverfügung zu schützen6 und setzen sich für deren juristische Absicherung ein.
1.  Zur Vertretung der individueller Rechte einzelner Insassen gibt es für Beschwerden der Patienten z. T. Ombudsleute, die allerdings von den Klinikdirektoren berufen werden. Ebenso Patientenfürsprecher. Wie weit sind diese im Konfliktfall auf Seiten der Patienten? Achten sie beispielsweise auf die “rechtzeitige(n) vorherige(n) (vor der Unterbringung, EREPRO) Aushändigung des Gutachtens an den Betroffenen”?7

Wenn ein Patient keinen Rechtsanwalt hat, bzw. sich – wie die meisten – keinen leisten kann, wie sollen seine individuellen Rechte in diesem komplizierten rechtlich/psychiatrischen Bereich gewahrt bleiben? Auch die meisten gesetzlichen Betreuer mit den üblichen Aufgabenbereichen sind damit überfordert.
Es könnte einigem Unrecht vorbeugen, wenn jedem, der keinen eigenen Rechtsanwalt hat, tatsächlich ein (obligatorischer!) Verfahrenspfleger zugeordnet würde.7
2. Zur Verbesserung der Gesamtsituation ist mehr Transparenz im Maßregelvollzug die bescheidenste Minimalforderung. Das heißt die Anfertigung differenzierter Statistiken über die Belegung der Einrichtungen (was bisher nicht geschieht), und  effektive und häufigere als jährliche Kontrollen und Überprüfungen der Arbeit der Zwangspsychiatrie.8
Konkret brauchen wir Gesetze und Regelungen, welche  die Hilfe für die betroffenen Menschen in den Vordergrund stellen und nicht die sogenannte Gefahrenabwehr. “Bei Einführung des Gesetzes stand zunächst der Sicherungsgedanke ganz im  Vordergrund. Mit der Strafrechtsreform im Jahr 1975 gewann der Behandlungsgedanke an Bedeutung. Die Überschrift des entsprechenden Gesetzes-Absatzes wurde umgekehrt: Statt ‘Maßregeln der Sicherung und Besserung’ heißt es seitdem ‘Maßregeln der Besserung und Sicherung’ (Kammeier, 2002).”9 Ob das etwas gebracht hat?

Aus einem Spiegel Interview mit  den Gutachter Psychiater Kröber 2017:
“Spiegel: 2016 wurde der psychiatrische Maßregelvollzug gesetzlich reformiert. Was versprechen Sie sich davon? Kröber: Das hilft uns, Patienten früher zu entlassen. Bisher musste man beweisen, dass jemand ungefährlich ist, um ihn entlassen zu können. Heute muss man umgekehrt nach sechs Jahren Unterbringung darlegen, dass er wirklich wieder erhebliche Straftaten begehen wird, um ihn drinnen zu behalten. Nach zehn Jahren liegt die Hürde für eine Verlängerung der Unterbringung noch höher.”10

Datenschutz spielt eine immer größere Rolle und muss gesetzlich geregelt werden.10a

Um die Arbeit begutachtender Psychiater und der zuständigen Richter zu verbessern, und sie bei der Ausübung von Zwang gegenüber straffällig gewordenen Menschen mit psychosozialem Hilfebedarf besonders zu sensibilisieren, ist ihre Schulung in humanistischer Sozialpsychiatrie zu empfehlen – auch für den kompetenten Umgang mit ihrer eigenen verständlichen Angst.11
Bei der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP), die viel und gute Fortbildungsarbeit in diesem Bereich leistet, gibt es allerdings kein einschlägiges Angebot für Richter bzw. Juristen.

Die von EREPRO dokumentierte Anfertigung des UN-Staatenberichtes Deutschland fordert ebenfalls Abhilfe angesichts der Zwangspsychiatrie in Deutschland!12 Nur – wann werden dessen Änderungsvorschläge realisiert?

Wie kann die Durchsetzung der Rechte von psychisch behinderten Straftätern – auch im Sinne der UN- Behindertenrechtskonvention  – gegenüber der Zwangspsychiatrie an Fahrt aufnehmen? Wer setzt sich dafür mit Leidenschaft ein?13

Grundsätzliche Forderung bleibt
1. die Abschaffung des zweigliedrigen Umgangs mit Delikten, der Strafe für Tatschuld einerseits, und der “Besserung und Sicherung” für “schuldunfähige” Täter andererseits. Diese zweiteilige Regelung wurde im 19. Jahrhundert konzipiert und 1933 als Gesetz verabschiedet.14
2. Streichung des Paragraph 63 StGB15, der bald nach der Machtergreifung 1933 von den Nationalsozialisten eingeführt wurde.

Am 15. September 2015 hat sich das „Kartell gegen § 63“ gegründet.
Begründung der Abschaffungsforderung der Gruppe:
“Zwei Merkmale des Vollzugs des § 63 in der forensischen Psychiatrie:
– Willkürliche und regelmäßig längere Freiheitsberaubung als bei einem vergleichbaren Delikt im Regelvollzug
– Erzwungene Körperverletzung durch psychiatrische Zwangsbehandlung.
Der UN-Sonderberichterstatter über Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Juan Méndez, hat bereits seit 2013 einen ‘absolut ban’ jeder Zwangsbehandlung legitimierenden Gesetzgebung gefordert. Staatlicher Zwang zu erduldender Körperverletzung per Gesetz steht vor der Todesstrafe als schärfste Sanktion des Strafrechts.”16

Natürlich wird die psychische Verfassung und die psychosoziale Situation eines Straftäters immer in die Urteilsfindung des Richters einfließen, aber es muss eine Strafe verhängt, und nicht vom Richter wegen einer nebulösen “Schuldunfähigkeit” eine unklare sogenannte “Besserung” in einer unbestimmten Zeitspanne beschlossen werden, ganz abgesehen von einer prognostisch schwer feststellbaren späteren Gefährlichkeit.

Die Psychiatrie verfügt schon lange über sinnvollere und wirksamere  Methoden der Hilfe und Begleitung für Menschen mit psychischen Belastungen als die der Zwangsverwahrung und -therapie in stationären Maßregelvollzugseinrichtungen.
In einem Artikel der Sozialpsychiatrischen Umschau,17 einer ziemlich positiven Darstellung des Lebens im Maßregelvollzug, beschreibt ein ehemaliger Insasse, jetzt dort Peer-Therapeut, wie sinnvoll Anwendungen und Verfahren, die denen der Sozialpsychiatrie entsprechen, auch in der Forensik sein könnten.18
Ehrenamtliche Mitarbeiter, Laien mit Interesse an Psychiatrie werden seit vielen Jahren mit großem Erfolg in der Sozialpsychiatrie eingesetzt.19 Offensichtlich ab und zu auch in der stationären Forensik – und das geht sicher nicht nur mit ehemaligen Insassen.
Dieser Vorschlag mag manchen Insidern abwegig erscheinen, da der Bürger ihnen eher in Initiativen gegen den Standort von Kliniken des Maßregelvollzugs entgegen tritt denn als Helfer. Aber ein Einsatz ehrenamtlicher Bürger durch die Klinik könnte eventuell bei diesen Konflikten sogar eine Vermittlungsfunktion haben.
Da die Herkunftsorte der Patienten in der Regel weit entfernt von der Forensischen Klinik liegen, sind Besuche von Freunden und Bekannten erschwert, und Laienmitarbeiter  könnten neben Gesprächsmöglichkeiten auch einen indirekten “Kontakt zur Außenwelt” bieten. Auch bei der “Gefährdungsbewertung” der Patienten durch das multiprofessionelle Team könnte ihre Stimme gehört werden. Bei Gelegenheit sind sie vielleicht weniger betriebsblind.
Zunehmend werden an die forensischen Kliniken Institutsambulanzen angeschlossen für entlassene Patienten. Sinnvoller ist es allerdings, die Nachbetreuung im Heimatort der Strafentlassenen durchzuführen.

Wem die (zwar nicht unangemessen!) laute und angespannte Stimme  des Autors der Ton-Bilder-Schau etwas auf die Nerven geht, kann sich bei YouTube das Video einer öffentlichen Anhörung bei der Humanistischen Union Marburg zum Thema “Menschenrechtsverletzungen durch psychiatrische Gutachter?” anschauen. “Obwohl sie eine immense Wirkung für die Begutachteten haben,” so heißt es dort, “werden sie (die Gutachten, EREPRO) auf fragwürdige Weise erstellt und in problematischer Weise gewürdigt,” Die Diplom-Psychologin Eva Schwenk aus Mainz äußert sich mit sanfter Stimme über psychiatrische Gutachten aus Sicht der Psychologie. “Viele Gutachten werden ihrer Beobachtung zufolge den fachlichen Ansprüchen nicht gerecht, die die Zunft selbst an derartige Untersuchungen stellt.”20 Eva Schwenk hat sich mutig in diesem Bereich der Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie engagiert. Sie hat ein Buch darüber geschrieben.21

Schrecken und Fassungslosigkeit und – tatsächlich – leider auch der fast unabweisliche Wunsch nach Verdrängung dieser unmenschlichen Seiten der aktuellen Psychiatrie, bestimmen die Reaktion unserer sog. Zivilgesellschaft.22

Dass gerade die nach der Zwangsbehandlung entlassenen Menschen mit besonderen psychosozialen Belastungen die Unterstützung und Hilfe ihrer Mitmenschen dringend benötigen, um ein für sie lebenswertes und menschenwürdiges Leben führen zu können, spielt bei den Angeboten der heutigen Psychiatrie kaum eine Rolle.

 

Anmerkungen
1 Aufzeichnung am 2.3.2018 in Bremen (Veranstalter: StattPsychiatrie)
https://www.youtube.com/embed/pJXUbAWIAP0
saasen@projektwerkstatt.de
2
EREPRO: Stationärer Maßregelvollzug: anders ist besser!

11. September 2014 (Psychiatrieleben)
http://www.erepro.de/2014/09/11/stationarer-masregelvollzug-anders-ist-besser/
und
Psychiatrische Gutachten – unter dubiosen Umständen
18. August 2014 (Fachforum)
http://www.erepro.de/2014/08/18/psychiatrische-gutachten-unter-dubiosen-umstanden/
und
Abschaffung des Paragrafen 63 Strafgesetzbuch!
27. September 2015 (Gut zu wissen)
http://www.erepro.de/2015/09/27/abschaffung-des-paragrafen-63-strafgesetzbuch/
3 Zuletzt kurz in der letzten Folge der Serie Bella Block 24.3.2018 – der Fall Mollath ist schon fast vergessen. Die Künstlerin Nina Hagen engagiert sich auch gegen das Vergessen zwangsbehandelter Menschen in der Psychiatrie.
4 So lange dauerte es bis zur Anerkennung einer Schuld an den NS Verbrechen durch den Fachverband der Psychiater DGPPN mit Organisation einer Wanderausstellung darüber. Auch wenn 2018 nicht annähernd so viele Menschen durch diese psychiatrischen Zwangsmaßnahmen betroffen sind (zur genaueren Diskussion der Zahlen s. T. Henking, J.  Vollmann Hrsg., Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, DOI 10.1007/978-3-662-47042-8_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015), nämlich 240 000 (s.o.), mindert das die Unmenschlichkeit selbstverständlich nicht.
“Psychiater und die Vertreter ihrer Verbände haben in dieser Zeit (Nationalsozialismus, EREPRO) ihren ärztlichen Auftrag, die ihnen anvertrauten Menschen zu heilen und zu pflegen, vielfach missachtet und eigenständig umgedeutet.” Man wollte “sich zu der eigenen Vergangenheit (zu) bekennen und aus der Vergangenheit (zu) lernen.”
https://www.dgppn.de/schwerpunkte/psychiatrie-im-nationalsozialismus/rede-schneider.html/de/nav_main/erwachsene/institut___klinik_fuer_forensische_psychiatrie/institut___klinik_fuer_forensische_psychiatrie_1.html
5 wie im LVR-Klinikum Essen. http://www.klinikum-essen.lvr.de/de/nav_main/erwachsene
6 BPE, Psychiatrische Zwangsbehandlung abschaffen. http://www.bpe-online.de/
und

https://www.zwangspsychiatrie.de
s. Werner Fuß Zentrum Berlin und Ra Wähner, Solidaritätsfond
7http://www.bundesanzeiger-verlag.de/betreuung/wiki/Unterbringungsverfahren#Bestellung_eines_Verfahrenspflegers
8 s.T. Henking, J.  Vollmann Hrsg., Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, DOI 10.1007/978-3-662-47042-8_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
9 s. Die Geschichte des Maßregelvollzugs, PDF mwv-berlin.de>leseprobe_images
10 http://www.spiegel.de/spiegel/gerichtsgutachter-hans-ludwig-kroeber-im-interview-unglueck-liebe-rache-a-1144322.html
und

zur detaillierten Diskussion der Novellierung: Rechtsanwalt Dr. jur. habil. Helmut Pollähne, Nach der Reform des Unterbringungsrechts (§ 63 StGB) ist vor der Reform. Kriminalpolitische Zeitschrift 1/2016
https://kripoz.de/2016/06/10/nach-der-reform-des-unterbringungsrechts-%C2%A7-63-stgb-ist-vor-der-reform/
10a allerdings nicht so, wie in dem Entwurf für das neue bayerische Psychiatrie Gesetz, s. http://spon.de/afdap
11 Das im Entwurf vorliegende neue bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) gibt wenig Grund zur Hoffnung auf Verbesserung der Situation.

s. taz.die tageszeitung vom 16.04.2018: der tag 2, S.2.
12 http://www.erepro.de/2015/06/05/staatenberichtsprufung-deutschlands-zur-umsetzung-der-un-behindertenrechtskonvention-un-brk-durch-die-vereinten-nationen-abschliesende-bemerkungen/
und
http://www.erepro.de/2015/05/04/staatenprufung-deutschlands-durch-un-behindertenausschuss-hat-stattgefunden/
Zitate daraus: “Die Praxis von Zwangsunterbringung und -behandlung in der Psychiatrie wurde mehrfach angesprochen.” “Das System muss in allen Teilen praktisch befähigt werden, Zwang im Zusammenhang mit Unterbringung und Behandlung zu vermeiden.”
13 Folgende Gruppen veranstalteten am 17.4.2018 im Haus des CVJM München eine kritische Diskussion über das  neue bayerische Gesetz: Gesundheitsladen München e.V., Netzwerk Psychiatrie München e.V., Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ), Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW) Oberbayern. Können diese Organisationen noch mehr tun? Was ist geplant?
14 https://de.m.wikipedia.org/wiki/Ma%C3%9Fregelvollzug
15 Text des Paragrafen 63 StGB:
Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
16 http://www.erepro.de/2015/09/27/abschaffung-des-paragrafen-63-strafgesetzbuch/
und
https://psychiatrielager.blogspot.de/2016/07/kartell-gegen-63.html
17 Sozialpsychiatrischen Umschau17 2/2018 S. 15
18 »Für meine Genesung bin ich selbst verantwortlich, ich kann jedoch nicht alleine gesund werden«, Toon Walravens Weg zum Peer-Berater in der Forensik, Sozialpsychiatrische Umschau 2018, S.15.
19 s. hilfe Blätter von EREPRO Nr. 13 Brauchen wir noch Ehrenamtliche in der Sozialpsychiatrie?  https://www.erepro.de/hilfe-blatter-von-erepro/
20 https://hpd.de/artikel/12346
21 Eva Schwenk, Fehldiagnose Rechtsstaat: Die ungezählten Psychiatrieopfer, 2004.
22 Die ganz große Ausnahme: die Sängerin und Schauspielerin Nina Hagen! Sie ist Mitglied der “Irrenoffensive” und im Werner Fuss Zentrum Berlin. Sie hat sich wirklich aktiv für die Freilassung von Mollath und anderen aus dem Maßregelvollzug engagiert, und bei einem Film (“Geisteskrank? Ihre eigene Entscheidung”) mitgewirkt, der Psychiatriepatienten empfiehlt, eine Patientenverfügung anzufertigen. “Die schlaue Patientenverfügung”, www.patverfue.de.

Trauer

Es ist so ungeheuerlich, was in der Nazizeit mit Menschen in der Psychiatrie geschehen ist, dass es mich immer wieder gedrängt hat, etwas zu tun.
Ich habe mich seit den fünfziger Jahren gründlich über die Nazi-“Euthanasie” informiert, die Informationen auch gegen Widerstände weitergegeben, und später versucht, eine einigermaßen humane Psychiatrie zu praktizieren.
Aber abschließen kann man dieses Kapitel nicht. Mittlerweile hat sich der Aktivismus gelegt und es drängt mich viel mehr, meinen Schmerz und meine Trauer darüber mit anderen Menschen zu teilen.

Die Opfer der “Euthanasie” waren Menschen mit schweren Beeinträchtigungen. Somit  waren sie dringend auf Hilfe und Unterstützung ihrer Mitmenschen angewiesen. Pflegekräfte haben in den Heimen mit ihnen zusammen gelebt und waren ihnen in der Regel eng verbunden. So wie die Angehörigen, ob sie nun mit den Pflegebedürftigen unter einem Dach lebten oder nicht.
Dann hat man ihre Lieben tatsächlich umgebracht oder gezielt verhungern lassen, und das nur notdürftig kaschiert. Das ist nicht zu fassen. Ein Massenmord mitten in Deutschland. Und wozu? Das war keine Opferung von Menschen für einen vermeintlich höheren Zweck wie im Krieg und zur Landesverteidigung – was auch schwer nachzuvollziehen ist. Nein, es geschah einfach so. Und wird bis heute als “Euthanasie” bezeichnet – als Gnadentod. So rechtfertigten sich die Mörder, und der eine oder andere glaubte das vielleicht tatsächlich  – in völlig pervertierter Für-Sorge?

Die einfache menschliche Hilfsbereitschaft – übergangen, verboten, ausgesetzt.
Wie das geschehen konnte, ist unbegreiflich. Und nur mit allergrößter Anstrengung kann man heute genügend Realitätssinn aufbringen, damit es gelingt zu glauben, dass dieses Massaker tatsächlich stattgefunden hat. Und dann? Hilflosigkeit, Lähmung, Verstummen. Es ist geschehen. In unvorstellbarem Ausmaß. Bei uns. Zu unseren Lebzeiten. Was soll man damit anfangen?
Wie geht man heute um mit den Gefühlen der Nachgeborenen, die von diesen Ungeheuerlichkeiten erfahren? Es gehört zum Einsatz für eine menschliche Psychiatrie, Hilfen zu bieten, sich mit dieser schrecklichen Realität zu beschäftigen, damit sie nicht verdrängt und vergessen werden muss, weil sie überhaupt nicht fassbar ist.

Ich möchte ruhig verharren und an das Leiden der Getöteten und derer, die ihnen nahestanden, denken. Aber gemeinsam mit anderen, die so empfinden wie ich.

Am Anfang stand  Hitlers Verfügung vom 1. September 1939, welche einige Ärzte aus ihrem Auftrag (“Kranke vor Schaden und willkürlichem Unrecht zu bewahren”) entließ mit der “Befugnis” zur Tötung beeinträchtigter und psychisch belasteter Menschen,

Am Jahrestag dieser Anweisung konnte man jahrelang Frau Ruth Fricke vom Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen treffen am Grundstück Tiergartenstraße 4, Berlin, wo früher die Zentrale für die Massentötungen stand – im Gedenken an die Getöteten und im entschlossenen Einsatz für eine würdige Gestaltung dieses Ortes als Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde.
Heute ist dieses Ziel erreicht. Es gibt diese Gedenkstätte.
Und an jedem ersten Samstag im September wird weiterhin auf Initiative des Bundesverbandes der Psychiatrieerfahrenen mit Frau Fricke der schrecklichen Morde gedacht. Zu dieser Gedenkfeier trafen sich heuer ca. 40 Personen in einem Raum der Philharmonie, die heute an der Stelle der “Euthanasie”-Zentrale steht.
Am Vortag gibt es jetzt eine offizielle “Begleitveranstaltung”, ausgerichtet von den 14 Verbänden des sog,  “Kontaktgesprächs Psychiatrie“ mit Vorträgen in der “Topographie des Terrors”. Information und wissenschaftliche Diskussion dominierten, immerhin unter dem  engagiert klingenden Motto “Gegen das Vergessen – aus der Geschichte lernen”.

Zum Trauern fand hier nicht viel Gelegenheit.
Das “Grußwort” des Vertreters der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.) allerdings ermöglichte mir Zugang zu diesen Gefühlen. Ein kurzer Moment gemeinsamen Verharrens angesichts des Entsetzlichen.

Ausgerechnet – mag mancher denken. Diese Fachgesellschaft DGPPN, die sich als Nachfolgeorganisation des  nationalsozialistischen Psychiater-Berufsverbandes versteht, hat sich erst vor ein paar Jahren dem Thema der Kranken- und Behindertenmorde durch Psychiater in der NS-Zeit gestellt. Viel später als andere Organisationen und Verbände, die auch Verbrechen an Hilfsbedürftigen und ihren Bezugspersonen begingen.

Der Autor dieses Grußwortes, Dr. Christian Kieser, Chefarzt einer Potsdamer Psychiatrischen Klinik, hat uns freundlicherweise seinen Text zur Verfügung gestellt. Leider haben wir keine Videoaufnahme des Grußwortes, denn die spürbare innere Beteiligung des Vortragenden tat ein Übriges zu dessen Wirkung.

Grußwort zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von Patienten Mord und Zwangssterilisation in der NS Zeit.
September 2017

Sehr geehrte Frau Fricke, sehr geehrte Damen und Herren,

Im Oktober 1939 ermächtigte Adolf Hitler mit einem auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginn zurückdatierten Einschreiben an den Leiter der Kanzlei des Führers Philippe Bouhler und Hitlers Begleitarzt Karl Brandt mit der organisatorischen Durchführung der als “Euthanasie” bezeichneten Tötung von “lebensunwertem Leben”. Die schriftliche Anweisung für die Euthanasiemorde war auf Hitlers privatem Briefpapier geschrieben und besteht aus einem einzigen Satz mit folgendem Wortlaut:
Reichsleiter Bouhler und Dr. med Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustand der Gnadentod gewährt werden kann.”

Mit diesem – so technisch und formal klingenden – Ermächtigungsschreiben wurde der Mord an 250.000 bis 300.000 psychisch kranken und behinderten Menschen angeordnet. Dieses Verbrechen gesellte sich zu der Zwangssterilisation, der 300. 000 bis 400.000 psychisch kranke und behinderte Menschen zum Opfer gefallen sind und bereits am 14 Juli 1933 wenige Monate nach der Machtergreifung Hitlers durch das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” grausame Realität wurde.

Ich spreche heute zu ihnen als Mitglied des Vorstands in Vertretung des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Die Zeit des Nationalsozialismus zählt zu den dunkelsten Kapiteln der Geschichte unseres Fachgebietes. Psychiater und die Vertreter ihrer Verbände haben in dieser Zeit ihren ärztlichen Auftrag, den ihnen anvertrauten Menschen zu helfen, sie zu pflegen und zu heilen, sträflich missachtet.

Angesichts dieser unfassbaren, schrecklichen Verbrechen war die Einrichtung der Gedenk- und Informationsstätte für die Opfer der “Nazi-Euthanasie vor 3 Jahren hier an diesem Ort der Tiergartenstraße 4 ein wichtiges Zeichen. Dies war möglich nach vielen Jahren des intensiven Einsatzes der Mitglieder des “Runden Tisches T4”, an dem sich auch die DGPPN beteiligte.

Die Gedenkveranstaltung, zu der wir uns heute hier zusammen finden, findet mittlerweile seit Jahren statt. Nach anfänglich noch geringer Beteiligung gehören dem Aktionskreis “T4 Opfer nicht vergessen” mittlerweile sehr viele Organisationen an. Dafür gebührt vor allem Ihnen, Frau Fricke, als Initiatorin und Organisatorin, unser aufrichtiger Dank!

Das Motto in diesem Jahr ist “Aus der Geschichte lernen”. Das bedeutet, sich der Vergangenheit zu stellen und sich der eigenen, besonderen Verantwortung bewusst zu sein. Dies betrifft natürlich unsere Fachgesellschaft aber vor allem uns als Ärzte, Psychiater und auch als Bürger.

“Geistiger Tod”, “Ballastexistenzen”, “lebensunwertes Leben”, all diese Worte gehen nur sehr schwer über die Lippen. Sie erschüttern und verstörend zutiefst – und im Wissen um die aktive Beteiligung von Psychiatern an Gleichschaltung, Zwangssterilisierung und Mord erfüllen sie uns mit Scham, Zorn und großer Trauer. Erst 70 Jahre nach den Taten hat die deutsche Psychiatrie sich systematisch mit ihrer Vergangenheit und der Geschichte ihrer Vorgängerorganisationen in der Zeit des Nationalsozialismus befasst und begonnen diese aufzuarbeiten. Ein wichtiges Anliegen der Fachgesellschaft war und ist – unabhängig von allen noch zu erhebenden historischen Details – bei den Opfern von Zwangsemigration, Zwangssterilisierung, Zwangsforschung und Ermordung, um Entschuldigung zu bitten.

Vor diesem Hintergrund ist es von besonderer Bedeutung, dass das (Nach)-Forschen nicht aufhört und wir uns weiterhin aktiv mit dem Vergangenen auseinandersetzen. Viele Aspekte und Hintergründe der damaligen Verbrechen sind immer noch nicht ausreichend beleuchtet und aufgeklärt.

Leid und Unrecht, schon gar nicht der Tod, können nicht ungeschehen gemacht werden. Aber wir können lernen – und wir haben dazu gelernt, die Psychiatrie ebenso wie die gesamte Medizin, Politik und Gesellschaft. Wir können gemeinsam für eine humane, menschenwürdige, am einzelnen Menschen orientierte Psychiatrie eintreten und gegen die Stigmatisierung und Ausgrenzung psychisch Kranker kämpfen – im steten Gedenken an die Opfer. Auch angesichts der aktuellen medizinethischen Diskussionen, bei denen es nur zu schnell auch um den “Wert” oder “Unwert” von Menschen geht, sind wir gehalten, eindeutig und entschieden Stellung zu beziehen.

Das unermessliche Leid, welches den Opfern der Euthanasie-Verbrechen wie auch deren Angehörigen und deren Nachfahren angetan worden ist, lässt sich schwer in Worte fassen. Ernst Putzki, der 1945 in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet worden ist, schreibt zwei Jahre zuvor in einem Brief an seine Mutter über die Zustände in der hessischen Landesanstalt Weilmünster: “Die Menschen magern hier zum Skelett ab und sterben wie die Fliegen. (…) Die Menschen werden zu Tieren und essen alles, was man eben von anderen kriegen kann. (…) Der Hungertod sitzt uns allen im Nacken, keiner weiß, wer der Nächste ist”. Angesichts dieses unfassbaren Grauens bleibt uns Scham, Schuld, Demut und die uneingeschränkte Übernahme von Verantwortung.
Sehr geehrte Damen und Herren, haben Sie vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Gespräch mit einer Ehrenamtlichen. Gefesselt auf geschlossener psychiatrischer Station

Kurzfilm (31′) über ein Gespräch mit Angelika Kurella, die Psychiatriepatienten auf geschlossenen Stationen besucht hat. Mehr als zwei Jahre nach ihrem plötzlichen Tod am 14. April 2014 können wir hier Filmaufnahmen von Juli 2013 zeigen, welche die Filmemacherin Sigrun Schnarrenberger und der Kameramann Dominik Schoetschel bearbeitet und EREPRO freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben.

Wir haben Ausschnitte aus einem gefilmten Gespräch zusammengestellt, das die Regisseurin mit Frau Kurella und einem jungen psychiatrieerfahrenen Mann geführt hat, der anonym bleiben will. Es handelt sich um Recherchematerial (© Schnarrenberger Juli 2013, http://www.mixed-marbles.de/) für einen Film, der Frau Kurella ein großes Anliegen war, der aber leider nicht mehr wie geplant verwirklicht werden konnte. Unser Dank gilt der Familie Kurella für die Unterstützung dieses Projektes.

Frau Kurella war jahrelang ehrenamtliche Mitarbeiterin von EREPRO und hat auf dieser Homepage und in hilfe Blätter von EREPRO Artikel veröffentlicht. Sie war  jemand, der die Wahrheit über ein Tabu-Thema an die Öffentlichkeit brachte und sich für die Rechte von Menschen einsetzte, deren Bedürfnisse zum Teil missachtet werden.

Hier ist der Film: https://vimeo.com/219267202?dnt=1

Zusammenstellung einiger Artikel von Frau Kurella:

DURST! von Angelika Kurella

Humor trotz aller Beschwerden

Psychisch krank? Sie sind nicht allein.

Dankesbrief an A. Kurella

“Wissen Sie, dass der Patient verwirrt ist?” von A. Kurella

Die kataton/hebphrene Psychose ist nicht unheilbar

Mitbringsel von A. Kurella

Verwahrlost unter Aufsicht! Ist das Krankenpflege? Angelika Kurella

Wer hilft nach Klinikentlassung? von Angelika Kurella

Wie man Patienten ganz bewusst täuscht: Das müsste man ändern! von Angelika Kurella

Ein gereimtes Gedicht

Der Nervenarzt ganz sachlich nickt,
der Läppische leicht blinzelnd blickt,
der Arzt wird zunehmend säurer,
uns beiden wird das immer ungeheurer.

Da sagt der Läppische ganz gelassen:
“Herr Oberarzt, rauchen wir erst mal eine”,
antwortet der Seelenforscher ganz gemessen:
“Das ist genau das, was ich selbst grad meine.”

Nur fängt plötzlich der Doktor an zu brüllen!
“Sie geistige Null wollen mich hier killen!”
Der Trottel fühlt sich gar nicht schuldig.
Nun wird der Facharzt langsam ungeduldig.

Da stellt der Seelendoktor die erste Frage.
Der Patient weiß gar nicht, was er dazu sage.
Erwähnt werden muss, ich bin der Trottel.
Wenn ich gar nichts sage, das weiß der Zottel,
kann er gar nicht schreiben, ich bin der Trottel.

So muss er endlich was finden,
und fragt ganz einfach nach dem Befinden.
Der zu Untersuchende sagt, “Wir sind per Sie!”
“Gut,” sagt der Arzt, “dann schmeiß ich halt den Laden hie!”

Gert Springmann, 2016

 

 

Der Autor schreibt dazu am 4.4.2016 an EREPRO:

ich habe wieder Gedichte verfasst. Die wollte ich Ihnen wieder vorlegen. Sie sind nicht gut, sie sind anfängerhaft, stümperhaft, dilettantisch, ungel((enk))?, unbeholfen….. , schwerfällig, naiv, ohne Witz und Form, anders ausgedrückt, es handelt sich hier um nicht verwertbare, vollkommen missglückte, nicht vorzeigbare Versuche, mit denen man sich gar nicht präsentieren sollte. (…)

Ich beschäftige mich wieder damit, ja versuche es unter schwierigsten Bedingungen, die an Absurdität, Lächerlichkeit, Kuriosität, und Dummheit nicht zu übertreffen sind, wieder kurze Texte zu schreiben, was fast unmöglich ist, was man sich nicht zumuten sollte, was einem keine Vorteile bringt, man versucht zu arbeiten, eine…….. Angelegenheit: denn wenn etwas nicht gefragt ist, dann ist es Arbeit. (…)

Ich lebte das Leben anderer. Rosa Klimm

Als ich so tief gefallen war, wurde mir langsam bewusst, dass in meinem Leben einiges gewaltig schief lief. Bisher lebte ich meist das Leben anderer, nicht mein Leben. Nur, was war mein Leben? Das musste ich herausfinden. Und so begann ich Stück für Stück mein Leben umzukrempeln. 

Immer war ich ein Verstandesmensch gewesen. Doch plötzlich kam ich damit nicht mehr weiter. Ich begann auf mein Herz und Gefühl zu hören.

Als erstes musste ich lernen, mich auszuhalten in meiner Verzweiflung, in meiner Verletzlichkeit, in meiner Angst, in meiner Ungeduld. Ich übte ständig meine Angst auszuhalten, und dass Panikattacken mich nicht umbrachten.

Mein Tag wurde durchstrukturiert mit Disziplin und Regelmäßigkeit, mit viel Bewegung an der frischen Luft bei jedem Wetter. Und es waren die ganz banalen Dinge des Alltags, die ich hart durchzog: früh aufstehen, einen Plan machen für den Tag und ihn auch einhalten.

Das erste halbe Jahr wollte ich mit niemandem reden. Ich musste für mich einen Weg finden, der begehbar wurde. Dann begann ich mit den Gesprächen in dem Sozialpsychiatrischen Dienst, den ich von meiner ehrenamtlichen Tätigkeit her kannte. Dort konnte ich wirklich über alles reden und bekam viele neue Aspekte aufgezeigt. Ich glaube, ohne diese vielen Gespräche hätte ich es nicht so leicht alleine geschafft.

Schon lange wollte ich meine Wohnung umgestalten. So begann ich diese von Grund auf zu renovieren. Praktische Arbeit hat mich schon immer abgelenkt. Ich hatte ja alle Zeit der Welt. Meinen ersten Urlaub alleine (ohne meinen Partner) musste ich planen. Aber ich konnte mir nicht vorstellen alleine zu fahren. Das hatte ich zuvor noch nie gemacht.
So fuhr ich zu meiner Tante, zwei Jahre hintereinander und war dort für ein paar Wochen gut aufgehoben. Danach konnte ich wieder klar denken.

Bald schon fing ich an Tagebuch zu schreiben, und nach kurzer Zeit war dieses Aufschreiben ein fester Bestandteil meines Tages. Mein ganzes Leben ackerte ich dabei durch.

Mindestens ein Jahr lang habe ich geheult und geschrien, wann immer ich alleine war.

Im Laufe der Jahre habe ich so eine Menge Kladde-Bücher vollgeschrieben, die ich im letzten Jahr mit einer Wonne durch den Reißwolf gejagt habe. Es war ein Freudenfest. Am Schluss verbrannte ich einen Rest mit Zugabe von Weihrauch in einem alten Topf. Das war vielleicht ein gewaltiger Abschluss!

Die Natur mit ihrem Werden und Vergehen und wieder Werden wurde mir zu einer ganz großen Lehrmeisterin. Da kapierte ich, dass nichts verloren ist und immer wieder Neues entsteht.
Ich setze mich mit meinem inneren Schweinehund auseinander. Dieser sollte nicht mehr die Oberhand behalten. Dabei begann ich so etwas wie innere Streitgespräche mit diesem zu führen.

In Unordnung war ich geraten, und ich entwickelte einen eisernen Willen, da wieder herauszukommen – ohne Arzt und ohne Pillen.
Ich füllte mein Leben mit ganz neuen Aktivitäten, die ich mir vorher nicht hätte vorstellen können, richtete alle meine Sinne danach aus, etwas zu finden, was mich ausfüllen könnte.

Jetzt ist es beileibe nicht so, dass alles nur so flutscht, als sei nie etwas gewesen. Meine Strategien, mein Leben zu gestalten, wende ich nach wie vor an.

 

Den folgenden Text habe ich im Jahr 2003 in mein Tagebuch geschrieben:

Auf meinem Weg.

Anfangs war er schrecklich, er bestand aus Hürden, die unüberwindlich waren. Dieser Weg war so schmal, dass ich keinen Platz darauf hatte. Es gab nur ein Tasten. Kann ich dieses Stück Weges wagen, stürze ich wieder ab, und wie tief geht es hinab? Schaffe ich dann den Aufstieg wieder? Es war eine Gratwanderung. Alles war so kantig, so spitz um mich herum. Es gab nur Verletzungen. Überall bin ich angestoßen und blutete oft.

Doch ich konnte nicht liegen bleiben, sonst wäre ich erstarrt. Es galt dieses bisschen Leben zu erhalten, nicht erfrieren zu lassen.

Und so war es anfangs nur ein Fallen und Aufstehen, Fallen und Aufstehen. Bis ich langsam das Laufen wieder lernte. Vorsichtig tastend, nach allen Seiten schauend, ob nicht wieder etwas im Weg war, ging es vorwärts. Und wehe, wenn ich nicht genau hinschaute, lag ich schon wieder auf der Schnauze.

Es lauerten so viele Gefahren auf diesem Weg und es gab keine Wegweiser. Nirgends stand die Richtung angeschrieben. Ist er überhaupt richtig dieser Weg, führt er ins Verderben, führt er ans Licht?
Niemand kann ich fragen, nirgends nachschlagen. Ich kann nur gehen, nur nach vorne schauen, denn das da vorne ist weniger schrecklich, als alles was dahinter liegt.

Das Fallen wird weniger und ich lerne mich umzusehen und einen sicheren Halt auf dem Boden zu finden und einen neuen Schritt zu wagen. Und so langsam entsteht Sicherheit. Ich merke, ich stürze nicht mehr so leicht, ich habe Halt gefunden.  Am Rand erscheint ein Geländer, an dem ich mich festhalten kann, hochziehen, wenn ich wieder mal ausgerutscht bin.

Eine Stütze ist da, eine Richtschnur, an der ich mich festklammern kann. Sie war immer da, ich sah sie nur nicht mehr. Zu sehr war ich damit beschäftigt, den Aufprall zu mindern, denn die Verletzungen bei diesen Stürzen wurden immer schlimmer.

Dann begriff ich, wenn ich mich festhalte, rutsche ich zwar aus, aber ich falle nicht mehr so tief. Ich kann den Aufprall mindern, abfangen.

Und die Sicherheit kommt und stärkt das Rückgrat.

Mein Fuß tritt jetzt fest auf, er rutscht nicht mehr weg. Die Hürden kann ich jetzt gut nehmen, kann sie überspringen. Sie werden kleiner. Oder habe ich gelernt lockerer darüber zu springen?

Der Weg wird breiter, ich muss mich nicht mehr festhalten. Ich kann ohne Hilfe gehen, laufen, anfangen zu springen. Es gibt keine Hürde mehr, die ich fürchte, ich habe sie alle genommen. Ich brauche auch keinen Umweg mehr zu gehen, habe gelernt den direkten Weg zu gehen und jedes Hindernis in Kauf zu nehmen.

Mein Weg ist nun überschaubar geworden. Ich kann es mir aussuchen, in welche Richtung ich gehen will. Es sind keine Felsbrocken mehr auf meinem Weg, die unüberwindbar sind. Die Hindernisse die sich nun vor mir aufbauen sind zu bewältigen.

Ich weiß nicht, ob die Hindernisse kleiner geworden sind, oder ob meine Kraft größer geworden ist. Vielleicht beides!
Rosa klimm

Mein Partner ist wohl depressiv – wir wollen keine Psychiatrie

  

Mein Partner ist abgeschnitten
von mir  
zur Zeit.                                                                       

So verschwindet er
immer mal wieder
aus meinem Leben
Und ist doch da

Das geschieht
nicht regelmäßig. 
Auslöser sind mir unbekannt.
Obwohl beobachtet mit Protokoll,
trotz Internetrecherche und Nachdenken.
       
Es gibt kein Prinzip, es gibt kein System.
Der Zustand ist wie Wetter.   
Man weiß es nicht vorher,
und kann es gar nicht steuern.

Anzeichen – ja.     
Vor allem Unentschlossenheit fällt auf,
banale Dinge zu entscheiden.
“Das weiß ich nicht” –
so lautet die Begleitmusik.
                                                      
Wenn es dann soweit ist,
stell ich mich darauf ein.
Hoffentlich sehr schnell,   
um mich zu schützen    
                                            
Schützen?

Vor plötzlicher Zurückweisung.
Bis hin zum aggressiven Korb,
nicht zu berechnen und ganz ohne Anlass
verstärkt durch Alkohol, der ja enthemmt –
dann mehr als sonst.

Ich bin genervt und ecke an,
vergesse, dass es wieder soweit ist,
mach Fehler ohne Überlegung:
Gewohnheit – Sicherheit – Vertrautheit
verführen mich dazu.

Schlagartig unterbrochene Verbindung,
schnell-wortlose Verständigung ist futsch.
Beginn der Zeit des großen Schweigens:
aktiv Zurückhaltung in Diskussion,
Aufmerksamkeit und Lust an meinen Themen,      
das wird nun eine zeit lang nicht mehr sein.

Fremd, isoliert, so stehe ich allein.
Beginne neu den Lernprozess,
der dauert bis allmählich –
gebranntes Kind – ich vorsichtiger bin.
Rückgriff auf meine Eigenständigkeit.

Blindheit im Zwischenmenschlichen
macht Umgangsformen harscher
und somit weniger sensibel –
so geht man um mit einem Hund.
Lautstark wird’s oft von meiner Seite,
wie wenn ich meinen Partner wecken will,
ihn, der nur kalt und gleichgültig sich gibt.

Lässt Orientierung an dem Gegenüber nach?
Was heißt das – weniger an Empathie?
Entzug von Sicherheit der Selbstverständlichkeit,
stand darauf die Beziehung?
Ein Rest von Anstandsregeln
verhindert, dass nicht alles
uns aus dem Ruder läuft.

Ich bin verletzt.
Doch mein Bedauern überwiegt.
Ich ahne, wie ich meinen Partner störe,
der nicht so reagiert wie sonst,
sich nicht auf alles einlässt.

Kann er Eindrücke schwerer integrieren?
Das denke ich.
Er schließt sich ab, wie um sich mehr zu sammeln.
Und alles weitere bedrängt ihn nur.
Auch, dass ich immer da bin,
das tut ihm nicht gut.

So mache ich
mich möglichst unsichtbar.
Dann geht es schon.

Ich sehe, wie er leidet.
Verhindern kann ich’s kaum,
er fühlt durch mich Herabsetzung
durch Vorschläge und kleine Tipps –
sogar Berührungen verletzen.

Entsprechend fehlt es an Respekt und Wertschätzung
für mich in diesen Zeiten.
Erniedrigung kommt vor
durch diesen reservierten „Fremden“,
den alle doch für meinen Partner halten.
Maßlose Wut kann mich dann packen.

Ich glaube nicht, dass  ich die Kältephase
verkürzen kann durch Mitgefühl –
genau so wenig helfen Lob und Anerkennung.
Es ist ganz einfach ein Naturereignis,
dem wir dann beide ausgeliefert sind.

Jetzt komme keiner mir mit Psychiatrie.
Um welche Störung geht’s denn hier ?
Liegt sie bei mir oder bei meinem Partner?
Wer ist Patient und wer der Angehörige?

Dieselbe kalte distanzierte Haltung –
nur diesmal bei dem Personal –
ab in das Schubfach mit der Diagnose
Das brauche ich nicht noch einmal.
Ihr macht uns nicht zu den Gestörten,
denn solchen macht Leben keinen Spaß.
Wir leben zwar am Rande der Gesellschaft
freiwillig und nicht abgeschoben.
Beruflich sind wir sehr gut drauf.
Mein Partner ist gebildet, geistreich, kreativ.
bewundert von sehr vielen Männern
und von den Frauen so wie so.

Die Psychiatrie, die würde das zerstören.
denn sie zersetzt den Stolz von jedem,  den sie trifft,
weil sie an ihm herum zu pfuschen anfängt.
Sie würde wagen ihn zu messen,
aus selbstherrlicher Besserwisserei.
Als ob das Leben kontrolliert abliefe,
und gerade wir uns schämen müssten.

Man will dort chemisch ins Gehirn eingreifen.
Was dabei vorgeht, ist noch nicht erforscht.
Man drängt dazu,
doch muss ein jeder für sich selbst entscheiden
wann denn der eigne Zustand
ihm unerträglich wird.

Mein Partner klagt nicht –
außer über mich.
Und unerträglich wird das Leben nicht.
Da hab ich keine Ängste.
Es gibt ja eine Perspektive.

Wir sind zusammen. Und es bleibt dabei.
Das Leben außerhalb der Kältephasen,
genießen wir
und oft sogar in dieser Zeit

Die Absicht von Beratern
Störungen zu tilgen,
erklärt sich nur berufsbedingt.
Das Reden drüber ist meist Zeitverschwendung.
Es sei denn, man hat Lust dazu.
Verführt wird dabei mancher Kunde
zu glauben an den Zauber der Veränderung
durch Therapie – 
dann ohne ständig neuen mühevollen Einsatz,
weil man ihm klar gemacht:
er selber sei unmöglich –
so wie er ist.
Das ist fatal.
Der Mensch wird unglücklich,
weil er derselbe bleibt.

Und wir versuchen’s weiter.
Es ist ein Auf und Ab.
Wir sind nicht ständig glücklich,
sogar zeitweilig sehr verrückt,
und das macht Angst.

Doch es geht schon
“Es gibt ja immer einen Ausweg“
sang eine jüdische Songsingerin.

Uta von Bebar