Hier sind einige Anmerkungen aus Anlass der Wanderausstellung „erfasst, erfolgt, vernichtet.“ Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus, ausgerichet von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Wurde die Schuld dieser Tötungsaktion gesühnt – auch von den Kirchen, die hilfsbedüftige Menschen in ihren Anstalten zur Zwangssterilisation und Tötung anmeldeten? Wie gedenken wir des schrecklichen Geschehens, um die Erinnerung wachzuhalten? Das Versagen der Verantwortlichen und mögliche Gründe werden angesprochen. Mehr Wissen über diesen Massenmord an psychisch kranken und behinderten Menschen und größere Präsenz des Themas in den Medien könnte die Menschen für neue gefährliche Tendenzen in der Psychiatrie sensibilisieren.
Worum geht es in der Wanderausstellung, die zuerst in Berlin gezeigt wird?
Die Antwort lesen wir am besten auf der Homepage der DGPPN nach:
„Unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Joachim GAUCK präsentiert die DGPPN in Kooperation mit den Stiftungen Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Topographie des Terrors eine Wanderausstellung, die NS-Opfer ins Zentrum rückt, die lange am Rande des öffentlichen Interesses und Gedenkens standen.
Bis zu 400.000 Menschen wurden zwischen 1933 und 1945 zwangssterilisiert, mehr als 200.000 wurden ermordet. Bei der Selektion der Patienten wurde der vermeintliche ‘Wert’ des Menschen zum leitenden Gesichtspunkt. Ärzte, Pflegende und Funktionäre urteilten nach Maßgabe von ‘Heilbarkeit’, ‘Bildungsfähigkeit’ oder ‘Arbeitsfähigkeit’ über die ihnen Anvertrauten. Dabei fand die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung auffälliger, störender und kranker Menschen innerhalb des damaligen Anstalts- und Krankenhauswesens statt.
Die Wanderausstellung richtet sich gezielt an ein breites Publikum: Sie nimmt die Frage nach dem Wert des Lebens als Leitlinie und beschäftigt sich mit den gedanklichen und institutionellen Voraussetzungen der Morde, sie fasst das Geschehen von Ausgrenzung und Zwangssterilisationen bis hin zur Massenvernichtung zusammen, beschäftigt sich mit exemplarischen Opfern, Tätern, Tatbeteiligten und Opponenten und fragt schließlich nach der Auseinandersetzung mit dem Geschehen von 1945 bis heute. Exemplarische Biografien ziehen sich durch die gesamte Ausstellung: In den Akten der Opfer werden die vielen verschiedenen Akteure fassbar, die an den Verbrechen beteiligt waren. Ihren Blicken auf Patienten werden deren eigene Äußerungen gegenübergestellt.
Den Schlusspunkt der Ausstellung bilden zahlreiche Stimmen, die das damalige Geschehen von heute aus reflektieren und sich aus unterschiedlichen Perspektiven der Frage stellen, welche Bedeutung es für sie persönlich hat: Ärzte, Politiker, Vertreter von Selbsthilfeverbänden, Angehörige von Opfern, Pflegepersonal, Vertreter der Gesundheitsverwaltung und andere.“
Die verschiedenen Kapitel der Ausstellung werden präsentiert auf mobilen Stellwänden:
1. Fotoalbum (Fotos von Opfern und Tätern)
2. Der Wert des menschlichen Lebens. (Zitate aus der Ideengeschichte der Zwangssterilisation und Euthanasie)
3. Rassenhygienische Politik
4. Mord (Lebensgeschichten der Opfer stehen im Mittelpunkt)
5. Nach 1945: Verdrängen und Erinnerung
Reaktion: Entsetzen
Seriös und honorig ging es zu – bei der Eröffnung der Ausstellung „erfasst, verfolgt, vernichtet.“ am 27.1.2014, dem Tag der Opfer des Nationalsozialismus, im Löbehaus des Bundestages mit Bundespräsident GAUCK.
Anlass der Ausstellung ist die Beschäftigung der Fachgesellschaft DGPPN mit ihrer schrecklichen, um nicht zu sagen kriminellen Vergangenheit in der NS-Zeit.
Diese Ausstellung kann man sich nicht einfach in aller Ruhe ansehen, man wird von Entsetzen gepackt. ULLA SCHMIDT, Bundestagsvizepräsidentin, merkte an, dass ihr bei dem Thema immer ganz mulmig werde.
Konkrete Personen als Opfer und ihre Angehörigen werden auf den 80 Schautafeln vorgestellt, die – auf Hilfe angewiesen – von ihren Betreuern der Zwangssterilisierung oder dem Tod ausgeliefert wurden. Diese Menschen brauchte man gar nicht zu “verfolgen” – wie der Ausstellungstitel suggeriert – sie konnten ja nicht weglaufen und sich nicht wehren.
Man fand das Leben dieser Patienten offensichtlich störend und wertlos und wollte sie aus der menschlichen Gemeinschaft entfernen. GÖTZ ALY berichtet, dass die Opfergruppen im Laufe der Zeit immer mehr ausgeweitet wurden auf sog. „Psychopathen, Tuberkulose kranke Deutsche und dann auch kranke Zwangsarbeiter (…), schwer erziehbare Jugendliche und verwirrte alte Leute.“1
Systematisch – in mehr als zweihunderttausend Fällen (nicht in Einzelfällen, wie es heute noch gelegentlich geschieht) – hat man die Tötung in den 30er/40er Jahren tatsächlich durchgeführt. Unfassbar.
Es war die Aufgabe der Ärzte und Betreuer, Hilfsbedürftigen das Leben zu erleichtern und sie zu unterstützen. Stattdessen verweigerte man ihnen Essen und Trinken – sogar noch nachdem die offiziellen NS-Euthanasiemaßnahmen gestoppt waren – und ließ sie verhungern. Welch eine Qual für diese Menschen, die ohnehin kein leichtes Leben hatten!
Entsetzen über das fehlende Mitgefühl und Unrechtsbewusstsein der damaligen Kollegen in der Psychiatrie. Der Hausvater HEINRICH HERRMANN, Leiter der Taubstummenanstalt Wilhelmsberg/Württemberg, ein Schweitzer Staatsangehöriger, wird als eine Ausnahme in der Ausstellung zitiert. Er schickte zunächst die Meldebögen leer zurück und formulierte sein Dilemma deutlich. Neunzehn ihm Anvertraute musste er auf Dienstanweisung seiner Vorgesetzten trotzdem auf die Todeslisten setzte. Trotz seines Ungehorsams gegenüber den NS-Behörden geschah HERRMANN nicht das Geringste.2
Auch Kinderärzte wurden schuldig. Sie führten in der NS-Zeit Experimente an behinderten Kindern durch und lieferten sie dann dem Tod aus.3 An diese Verbrechen wurde etwas früher – 2010 – mit einer Ausstellung in Potsdam-Babelsberg erinnert.4
Man kann es kaum glauben, dass „nicht einmal nach 1945 (…) Psychiater an der Seite der Opfer standen.“, wie FRANK SCHNEIDER, von der DGPPN, Inititator der Ausstellung, gesteht.5
Nach der NS Zeit wurden zwar einige ärztliche Täter ihrer Posten enthoben, ihre Tat – die Zwangssterilisation – aber in den Folgen für die Opfer bagatellisiert: In Hamburg wurde der in der Nachkriegszeit dafür verurteilte Psychiater GERHARD KREYENBERG sogar mit der Begutachtung der Folgen der Zwangssterilisation beauftragt. „Er stritt die Folgen als Einbildung der Betroffenen ab und demütigte die AntragstellerInnen so ein weiteres Mal“.6 Finanzielle Entschädigungen für die zwangssterilierten Menschen hielten sich dementsprechend in Grenzen.
So geschehen vor nur 70 Jahren in unserem Land. Theoretisch diskutiert und salonfähig gemacht wurden solche verbrecherischen Ideen in Deutschland schon seit dem Ende des 19. Jahrhundert. Sie sind bis heute nicht aus den Köpfen verschwunden.7 Das NS-Regime bot diesen falschen und gefährlichen Ideen einen „Ermöglichungsraum“.
Gedenken
Und jetzt – zwei Lebensalter später – geht es um das Erinnern und Gedenken an diese entsetzlichen Vernichtungsaktionen. Wozu Gedenken?
Weil es so üblich ist, weil es heute erwartet wird, und man danach wieder „unbescholten“ dasteht, weil die dunklen Kapitel der Verbandsgeschichte damit abgeschlossen sind? Manchmal sieht es fast so aus.
Die DGPPN versucht „Wiedergutmachung“ durch Entschuldigungen bei noch lebenden Angehörigen, Entzug der DGPPN-Ehrenmitgliedschaft verstorbener Täter, Forschungsaufträge über Zusammenhänge und Hintergründe.8 Soweit so gut?
In der von PETTRA LUTZ klug und durchdacht kuratierten Ausstellung der DGPPN geht es weniger um das „Aufarbeiten“, was immer das heißt.
Diese Ausstellung will in erster Linie Beispiele dafür zeigen, was damals geschah, nicht unbedingt Hintergründe aufdecken und nach Konsequenzen für die heutige Arbeit in der Psychiatrie fragen – so hieß es ausdrücklich.
Es gelingt der Kuratorin Entsetzen über das Geschehen dieser Vernichtungsaktion auszulösen, “ein notwendiger Impuls, um sich zu engagieren, weil man betroffen ist – hin zu Mut, sich einzumischen.“9
Zur Zeit wird in Berlin ein Denkmal in der Tiergartenstraße 4 gebaut, auf dem Grundstück der heutigen Philharmonie, wo sich die Organisations- und Koordinationsstelle für die Tötung behinderter und psychisch kranker Menschen befand.
Wie muss ein Denkmal aussehen für diese Ungeheuerlichkeiten?10
Das Denkmal in der katholischen Anstalt Ursberg (s.u.)hat uns irritiert, da die Namen der 359 Opfer nicht genannt werden.
Dominikus-Ringeisen-Werk Ursberg, Denkmal
In den letzten Jahren wird Wert gelegt auf namentliches Erinnern an die Opfer. „Stolpersteine“ werden seit 2004 auch für Euthanasieopfer verlegt – 20 Jahre nachdem es Stolpersteine für andere Opfer des NS-Regimes gab! Auch „Opferbücher“, und Datenbanken mit den Namen der Getöteten und Zwangssterilisierten – wie es sie für jüdische Opfer schon lange gibt – werden allmählich erarbeitet.11
Kann auf diese Weise ein Beitrag geleistet werden, damit sich so etwas nicht wiederholt? In Mecklenburg-Vorpommern stehen die landesweiten Gedenkveranstaltungen an die NS-Euthanasie unter dem Motto: „Erinnern – Betrauern – Wachrütteln“.
Das öffentliche Interesse an dieser Ausstellung der DGPPN ist groß.
„Etwas mehr darüber im Fernsehen, würde ich mir wünschen!“ sagte eine Besucherin neben mir. Dem können wir von EREPRO nur zustimmen.
In den Medien wird viel weniger über diese Mordaktion an unserer behinderten Bevölkerung berichtet als über andere Vernichtungsaktionen wie die an Roma und Sinti. Soll der Berufsstand der Ärzte geschont werden?
Das Sichtbarmachen ist jedoch enorm wichtig. Die Erinnerung an dieses “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” an psychisch kranken Menschen und Behinderten muss wach gehalten werden.
Filme, Dokumentationen und Reportagen könnten öffentliche Diskussionen über diese Thematik anstoßen. Beispielsweise über den immer noch als selbstverständlich geltenden Wunsch nach Abschaffung von Behinderung überhaupt. Und das Problembewusstsein schärfen für die von Ärzten bis heute dringend empfohlene Kinderlosigkeit psychisch kranker Menschen. Diese „Expertenempfehlung“ sorgt bei Psychiatriepatienten für große Angst und Unsicherheit – und nicht selten für Aufgabe des Kinderwunsches.
Übrigens – das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde erst 2007 „geächtet“ – nicht annulliert, wie von Verbänden gefordert!12
Auch Gedichte und Literatur könnten die Euthanasie Morde an Psychiatriepatienten bekannter machen. Der Roman „Wem sonst als Dir“ von UTA-MARIA HEIM (Krimibestenliste) ist ein gutes Beispiel dafür. Hier spielt die Tötungsanstalt Grafeneck bei Reutlingen eine Rolle.
Ein großes Tribunal – wie der Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (100.000 Tote) – hätte diesen „Genozid“ an insgesamt 300 000 behinderten und psychisch kranken Menschen der Euthanasie im Deutschen Reich und in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten wohl am nachhaltigsten im öffentlichen Bewusstsein Deutschlands verankert.
Und damit die Aufmerksamkeitsschwelle gesenkt für das Auftreten neuer Übergriffe in der Psychiatrie. So, wie man in Deutschland empfindlich auf Antisemitismus reagiert.
Verfehlungen
Schuldzuweisungen münden idealerweise in konkrete juristische Verfahren – mit rechtlicher Bewertung der Taten und Verurteilung der Täter. Damit wird besonders nachdrücklich festgeschrieben, dass es sich um Unrecht handelt.
In Hessen initiierte Generalstaatanwalt FRITZ BAUER in den 60er Jahren Ermittlungen gegen leitende Psychiater in der T4-Euthanasie-Zentrale – auch gegen Richter und Staatsanwälte13, die allerdings nach seinem (überraschenden, rätselhaften) Tod 1968 sofort eingestellt wurden.
Die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichenfür die NS-Euthanasieaktionen hält sich in Grenzen.14
Es gab staatsanwaltliche Ermittlungen nicht nur wegen der Organisation und Durchführung der Tötungen, sondern auch über die Auslieferungen von Patienten an die Tötungsanstalten. In den Hamburger evangelischen Alsterdorfer Anstalten war das der Fall.15
Jedoch – soweit wir feststellen konnten – nicht in Neuendettelsau, einer nordbayerischen evangelischen Anstalt, die deutschlandweit die meisten Behinderten zur Ermordung abtransportieren ließ13: das Gedenk-Projekt „Das Denkmal der grauen Busse”16 informiert gründlich über die Auseinandersetzung in dieser Anstalt. Über strafrechtliche Anklagen der Verantwortlichen – wie des Leiters der Pflegeabteilung, Pfarrer RATZ – erfährt man in dem Projekt nichts.
„Theologen maßen menschlichem Leben – neben seinem Wert für Staat und Gesellschaft – eine absolute Würde zu,“ heißt es im Ausstellungskatalog S. 2. Man könnte sich fragen, warum diese „absolute Würde des menschlichen Lebens“ nicht auch für die Ärzte galt, verpflichtet durch den hippokratischen Eid.
Mit dieser Aussage über die Theologen läßt die Euthanasie-Ausstellung der DGPPN die Kirchen in einem (zu) guten Licht erscheinen: vielleicht ein Erfolg rechtzeitiger kirchlicher Vorsichtsmaßnahmen? Pfarrer RATZ am 30.6.194517: “Wie ich neulich von Frau DR. ASAM-BRUCKMÜLLER hörte, interessieren sich die Amerikaner sehr für die Sache. Es scheint auch, dass sie versuchen, einen verantwortlichen Mann zur Rechenschaft zu ziehen. Da ist es natürlich nötig, dass unsere Angaben über das, was wir taten, übereinstimmen. Als in dieser Woche Herr Landesbischof MEISER hier war, wurde auch über diese Sache gesprochen und auch von ihm betont, wie nötig es sei, gerade in diesen Dingen möglichst Vorsicht walten zu lassen”. Das klingt nicht nach rückhaltloser Aufklärungsbereitschaft.
Die weitere Aussage der Ausstellung: „Eine Zustimmung (der Protestanten, die Red.) zu Tötungen kam nicht infrage“ und „Patienten einzelner protestantischer Anstalten konnten so (durch Verhandlungen, die Red.) gerettet werden“18 muss relativiert und korrigiert werden – wie im folgenden zu zeigen ist.
Übrigens – beim Googeln zu diesem Themenkomplex, hat man fast den Eindruck, dass die Nationalsozialisten mehr Protest der Kirchen erwartet hatten, als dann tatsächlich eintrat.19 ERNST KLEE klagt die Kirchen in seinem Film von 1988 „Alles Kranke ist Last – Euthanasie im Dritten Reich“ der Mitwirkung an der NS-Euthanasie an.20
1. Widerstand gegen Zwangssterilisation und Euthanasiemorde in der evangelischen Kirche Bekannt ist die Denkschrift von Pfarrer BRAUNE von 194017, die HITLER kannte. Dieser ließ BRAUNE ausrichten „die Maßnahmen könnten nicht aufgehoben werden, aber sie sollten ‚anständig’ durchgeführt werden“.21
Dennoch – “ein geschlossener, einheitlicher und offizieller Widerstand ist von der evangelischen Kirche aus nicht zustande gekommen.“ „Widerstand erschöpfte sich in vertraulichen Eingaben an Länder- und Reichsbehörden. Während die Spitze der evangelischen Kirche keinen Erfolg durch ihren ‚vertraulichen Widerstand’ erzielte, versuchten die Anstaltsleiter der Inneren Mission, die gegen die Zwangssterilisationen keine Einwände erhoben hatten, nun ihre Pfleglinge vor Verlegungen in T4-Anstalten zu schützen. Sie leisteten hinhaltenden Widerstand. Das hieß, sie weigerten sich, die Meldebögen auszufüllen. Allerdings teilten sie die Kranken nach eigenem Schema in Gruppen ein, um möglichst wenige der ‚Euthanasie’ auszuliefern. Von der kontrollierenden T4-Ärztekommission wurde diese Einteilung lobend erwähnt, da die Kommission dadurch viel früher ihre Arbeit beenden konnte.“22
“Der Spiegel“23 berichtet: „In der nordbayrischen Anstalt Neuendettelsau beispielsweise erledigten ein DR. STEINMEYER und Kollegen binnen weniger Tage die Fragebögen für 1800 Menschen. STEINMEYERS Crew untersuchte nicht einen einzigen der Pfleglinge, die meisten wurden nicht einmal angesehen.“
2. Widerstand gegen Zwangssterilisation und Euthanasiemorde in der katholischen Kirche
“Die katholische Kirche, 1940 schon über die Gasmorde informiert, verbot den katholischen Heil- und Pflegeanstalten eindeutig die Mitarbeit an den Verlegungen und meldete bei der NS-Spitze vorsichtigen Protest an. Durch die T4-Zentrale initiiert, fanden Verhandlungen mit der Fuldaer Bischofs-Konferenz über eine eventuelle Duldung der ‚Euthanasie’-Maßnahmen statt. Anfang Dezember 1940, als die T4-Organisatoren gerade mit einem positiven Ergebnis dieser Gespräche rechneten, kam vom Vatikan eine Stellungnahme, in der die ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens’ ausdrücklich abgelehnt wurde. Weitere Verhandlungen fanden deshalb nicht mehr statt.“24
Mögliche Gründe für das Versagen der Verantwortlichen
Das Versagen der damaligen Psychiater, und der Verwaltungsmitarbeiter, ihre Abhängigkeit von Forderungen staatlicher Stellen, Karriere- und materielle Interessen25 werden in der Ausstellung deutlich durch Dokumente über die Euthanasie-Pläne der Nationalsozialisten und über zeitgenössische Fragen und Diskussionen.
Es ist nicht möglich, Gründe und Ursachen für dieses Geschehen eindeutig zu ermitteln, und somit Wiederholungen mit Sicherheit auszuschließen. Aber öffentliche Debatten sollten stattfinden über die Fehler im Umgang mit behinderten Menschen, die solche Entsetzlichkeiten zur Folge hatten.
“Ich glaub nicht, dass der Mensch so gut ist und so gefeit ist und dass unser System so toll ist, dass wir verhindern können, dass so was noch mal passiert.” sagt FRANK SCHNEIDER.20a BEDDIES dagegen fordert, dass „die Beschäftigung mit der NS-Medizin, sei es im Forschungs-, sei es im pädagogischen Bereich nicht als lästiger und vorübergehender Auftrag, sondern vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen als Dauerauftrag verstanden werden muss; die Geschichte lehrt nämlich doch, sie hat nur leider so wenige Schüler.“26
MICHAEL WUNDER von den Alsterdorfer Anstalten betont, das Selbstbestimmungserfordernis sei keine „stabile Grenze“.27
Das stimmt: solche Grenzüberschreitungen garantiert zu verhindern, steht in niemandes Macht. Diese können aber deutlich als falsches Verhalten gekennzeichnet und verurteilt werden.28
Was lief falsch, dass ganz normale, ja gerade die qualifiziertesten Psychiater zu Verbrechern wurden? Die Frage drängt sich dem Ausstellungsbesucher förmlich auf. Sie wird allerdings so nicht thematisiert.
Pfarrer KARL FUCHS schrieb 2000: “Nicht um Schönfärberei oder Vertuschen geht es uns, aber um Achtung vor den Brüdern, die in böser Zeit verantwortlich handelten und dennoch schuldig geworden sind.“29
Das klingt ja fast, als ob “die Brüder” Opfer waren. Es gibt eine These, die besagt, die Psychiatrie sei von den Nationalsozialisten “instrumentalisiert” worden. Hier – ebenso wie bei der Rede vom “institutionalisierten Rassissmus” gibt es großen Diskussionsbedarf über die Verantwortlichkeit Einzelner.
War es diesen Pfarrern unklar, was „falsch“ bedeutet, und woran sich das Handeln gegenüber schwachen Menschen orientieren muss?
Schwere Verfehlungen – wie die NS-Euthanasiemorde – konnten nur in Verkennung der Wirklichkeit (als das, worauf wir keinen Einfluss haben) geschehen und durch Nicht-Beachtung der Grenzen unseres Mutwillens, denn menschliches Verhalten ist nun mal nicht beliebig – es kann falsch sein.
Zwei prinzipielle Postulate, durch die falsches Verhalten identifiziert werden kann – ein juristisches und ein sittliches – sollten für jeden Bürger handlungsbestimmend sein – auch oder gerade für Mächtige.
1. Die juristische Grenze.
Wenn es – wie bei der NS-Euthanasie – kein gültiges Gesetz gibt, bestimmt sich „falsches Verhalten” grundlegend aus dem Naturrecht, in dem kein Mensch einen anderen töten darf. Das ist geltende Rechtsnorm.
Man kann davon ausgehen, dass diese rechtliche Lage den Verantwortlichen der Mordaktionen bekannt war. Wenn sie trotzdem mordeten, verleitete sie wohl primär eine Mißachtung der sittlichen Normen im Verhältnisses zu den Mitmenschen zu ihren Verbrechen.
Theologen versuchten die Tötungen zu legitimieren. Dr. HANS HARMSEN, leitender Mitarbeiter der Inneren Mission, formuliert bereits 1931:
“Dem Staat geben wir das Recht, Menschenleben zu vernichten, Verbrecher und im Kriege. Weshalb verwehren wir ihm das Recht zur Vernichtung der lästigsten Existenzen?”30
Selbst der verehrte Pastor FRIEDRICH VON BODElSCHWINGH, Leiter der Bethelschen Anstalten wörtlich: „Ich würde den Mut haben, vorausgesetzt, dass alle Bedingungen gegeben und Schranken gezogen sind, hier im Gehorsam gegen Gott die Eliminierung an anderen Leibern zu vollziehen, wenn ich für diesen Leib verantwortlich bin.”31
2. Die sittliche Grenze.
Im zwischenmenschlichen Bereich bestimmt sich Anstand und Sittlichkeit grundlegend durch die Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des anderen Menschen.32
Im Ausstellungskatalog heißt es: „Die NS-Psychiater maßten sich an, die Lebensweisen und -möglichkeiten einiger ihrer Patienten offensichtlich für unzureichend zu betrachten und ignorierten daraufhin dieses universelle Selbstbestimmungsrecht.“33
Diese paternalistische Haltung verführte sie zu den “Übergriffen” wie Zwangssterilisierung und sogar Ermordung.
Das sittliche Postulat ist eine einfache Anstandsnorm im Zusammenleben der Menschen. Einschränkungen und spitzfindige Differenzierungen in Fachdiskussionen dürfen ihre Gültigkeit nicht relativieren. Auch wenn HIMMLER in den berühmten „Posener Reden“34, behauptete, die SS-Mörder seien „immer anständig geblieben“, so forderte er „anständig zu sein“ nur gegenüber den „Angehörigen unseres eigenen Blutes und sonst zu niemandem.“ Diese Einschränkung ist völlig willkürlich, und wurde dann auch nach Bedarf variiert: die Euthanasiemorde wurden begangen an Deutschen!
Sogar der Volksmund fordert diesen Anstand im Sprichwort: „Was du nicht willst, das man Dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“35
Es ist also auch möglich, sittlich falsches Verhalten zu erkennen und zu beurteilen.
Beide Postulate gelten für alle Menschen – auch für Psychiater und Kirchenvertreter, und seien sie noch so „hochkarätig“.
„Er (Rektor LAUERER von Neuendettelsau, die Red.) weiß, dass es vor Gott kein ‚lebensunwertes Leben’ gibt, schreibt aber 1939: ‚Wir Lutheraner können nicht anders, als grundsätzlich bejahend zum Staat, zu unserem Staat stehen. Von diesem Standpunkt aus haben wir kein Recht es zu beanstanden, wenn der Staat die Tatsache minderwertigen Lebens konstatiert und dann auch handelt.’ Diese Haltung erlaubt es, dass 1941 aus den Neuendettelsauer Anstalten von 2‘137 Bewohnern 1‘911 abtransportiert werden.”36
In einer Niederschrift über die Verhandlungen mit der Regierung von Ober- und Mittelfranken betreffs „Verlegung unserer Pfleglinge“ (aus der Anstalt Neuendettelsau, d. Red.) heißt es 1941: „Herr Rektor LAUERER betonte, dass wir uns einer Anordnung des Staates selbstverständlich fügen.”38
Die Argumentation von LAUERER beruht auf der sog. Zwei-Reiche-Lehre der Lutherischen Kirche37, die Auseinandersetzung darüber ist bis heute nicht abgeschlossen. LAUERER stand der Bekennenden Kirche nahe.40
Am Ende der Ausstellung „erfasst, erfolgt, vernichtet.“ kann man sich sog. Statements von Menschen aus der heutigen Psychiatrie anhören. MICHAEL v. CRANACH sagt dort, dass die Beschäftigung mit der NS-Euthanasie sein Selbstbild als Psychiater stark verändert habe. Er will den Patienten auf Augenhöhe begegnen und nicht Macht ausüben, sondern „Dienstleister“ sein. Aus unserer Zusammenarbeit mit seiner Klinik können wir bestätigen: das ist den immer neuen Versuch wert.
Warnung vor gefährlichen Grenzüberschreitungen
Was Mitarbeiter in der Psychiatrie wohl verleitet haben könnte, die beiden beschriebenen, allgemein anerkannten Grenzen zu überschreiten, spielte in unseren Diskussionen bei EREPRO über die DGPPN-Ausstellung eine große Rolle. Die Frage bot gleichzeitig Gelegenheit „uns mit uns selbst bekannt zu machen“.41
Wir referieren hier diese Überlegungen und Vermutungen schlagwortartig. Sie müssen weiter ausgearbeitet werden, besonders in ihrem Bezug auf die aktuelle Psychiatrie, aber vielleicht kann man ihnen schon einige Hinweise zur Warnung und Früherkennung von Gefahren erneuter Grenzüberschreitungen in der “modernen” Psychiatrie entnehmen.
a. NS-Psychiater könnten sich als allzuständig für gesamtgesellschaftliche Ordnung und Kontrolle verstanden haben. Scherzhaft sagte MANFRED LÜTZ am 6.5.2014 im ZDF, seine Klinik sei „für Irrsinn des Kölner Südens zuständig“.42
Eine größenwahnsinnige Mission übersieht schnell die Selbstbestimmungsrechte Anderer. Dazu einige Zitate:
„Davon ausgehend, dass der Nationalsozialismus Ärzte und Forscher weitgehend von ihrer Verantwortung gegenüber ihren Patienten entbunden hatte, indem er scheinbar höhere Werte und politische Interessen des Volksganzen in den Vordergrund rückte, stellen die Kinderärzte sich der Tatsache, dass viele unter ihnen nicht die Kraft aufbrachten, den Versuchungen zu widerstehen. Sie haben damit sich und der deutschen Kinderheilkunde schwerste Schuld aufgeladen.“43
“Das Ziel (der Euthanasie-Tötungen, d. Red.) sei in erster Linie durchaus nicht ein wirtschaftliches, das Ziel sei vielmehr auch ein grosses, es gehe um eine höhere ärztliche und allgemeine Ethik, es sei menschlicher eine lebensunwerte Existenz zu beenden als sie weiter…“ schreibt Psychiater EWALD laut Ausstellungskatalog. S. 75
„Die NS-Mediziner (…) waren Idealisten und hatten eine gesellschaftliche Utopie. Es handelte sich um eine biopolitische Entwicklungsdiktatur mit dem Ziel der vollständigen Kontrolle über Leben, Leiden, Sterben, Zeugen und Gebären.”44
“Die biopolitische Utopie von einer Gesellschaft leistungsstarker, lebensfreudiger und gesunder Individuen machte sie für den nationalsozialistischen Zukunftsentwurf anfällig“, meint ALY.45
b. Mitarbeiter in der Psychiatrie (insb. Ärzte) könnten aus ihrer gesellschaftlichen Machtposition – insbesondere als Gutachter – eine patriarchalische Haltung entwickeln und Anforderungen und Ziele für andere Menschen (auch Kollegen) verabsolutieren, sowie eigenmächtig Verhalten normieren, wo eigentlich Toleranz der Vielfalt, Wissen um die prinzipielle Unerreichbarkeit solcher Ziele (auch der wissenschaftlichen), und das Aushalten von Mehrdeutigkeit angemessen wären. Das sittliche Postulat der Beachtung der Bedürfnisse Anderer würde dabei übersehen.
Ein Gegenbeispiel: Der Chefarzt v. CRANACH ließ die übliche „Prognose“ für den Patienten in Arztbriefen weg mit der Begründung, dass sie fachlich nicht mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden könne.
c. Psychiatrie-Fachkräfte könnten sich Kontroll- und Zwangsmaßnahmen anmaßen aus ihrer Machtposition heraus. Wobei die lebendige Auseinandersetzung, Motivierung und Überzeugungsarbeit mit Patienten und Kollegen zu kurz käme. Auch persönliche Bedürfnisse der Psychiatrie-Mitarbeiter nach Klarheit und Eindeutigkeit, Ruhe und Ordnung – vielleicht sogar eine gewisse Bequemlichkeit – könnten bei der Anwendung von Zwang eine Rolle spielen bei dieser Mißachtung von Patientenselbstbestimmung.
Der Psychiater PAUL NITSCHE setzte sich vehement gegen Zwangs- und Kontrollmaßnahmen ein – als unvereinbar mit der Menschenwürde und der Achtung vor Klienten. Er vertrat eine ambulante Sozialpsychiatrie unter Einbeziehung von Laien, wie sie heute praktiziert wird. Im Laufe seiner Karriere wurde er Leiter der T4 Zentrale, dabei freute er sich nach den Tötungen „ohne den Ballast nun richtige Therapie treiben zu können“. Nach dem Krieg wurde er als Massenmörder hingerichtet.46
Die Ablehnung von Zwang in der Psychiatrie bedeutet also noch keine Sicherheit gegenüber anderen, sogar tötlichen „Übergriffen“, insbesondere wenn ein Psychiatriepatient als „unheilbar“ erscheint.
d. Wie verfahren wird, um „Verrücktheit“ zu bändigen, wird letztendlich der betroffene Mensch bestimmen und nicht der psychiatrische Experte.
Es gab – und wird immer eine große Bandbreite von Haltungen und Wertausrichtungen bei den Mitarbeitern der Psychiatrie geben. Im Kampf gegen den „Irrsinn“ kann man im Interesse von Ordnung und Effektivität dazu neigen, “Verrücktheit” durch chemische Einwirkung (Medikamente) zu unterdrücken – zur Sicherheit in hoher Dosis und lebenslang. Oder man stellt die „irrsinnigen Ideen“ selbst in den Mittelpunkt und interpretiert und analysiert sie im Gespräch mit dem Patienten, um so das Chaos zu durchdringen.
Diese Vielfalt ist Realität, auch wenn die Einstellungen unvereinbar erscheinen, und sich jede der verschiedenen Ausrichtungen auf der einzig richtigen Seite wähnt. Das war auch bei den Psychiatern der Nazi-Euthanasie der Fall.
Fachkompetenz wird aber durch Beratung und Diskussion mit dem Patienten wirksam – nicht durch ein psychiatrisches “Machtwort”. Das kann sowohl ein Zurückstellen der eigenen (wissenschaftlichen oder therapeutischen) Interessen bedeuten, als auch das Zurückstellen wohlmeinender Fürsorge für den Patienten. Die Arbeit wird dadurch langwieriger, mühsamer und weniger „effizient“. Diese Einschränkungen nimmt das “anständige” Fachpersonal auif sich: „Das ist Psychiatrie“ – lautet ein geflügeltes Wort dazu von Mitarbeitern, die sich nicht ködern lassen aus ihrer Machtsituation heraus eigene, schnelle Pseudoerfolge bei Patienten zu erzielen.
e. Die Angst vor den Abgründen der menschlichen Seele könnte bei Psychiatrie-Mitarbeitern so groß sein, so dass sie sich untergründig bedroht fühlen durch vage “Gefährlichkeit” ihrer Patienten. Auch das kann in Versuchung führen, das sittliche Postulat nach deren Selbstbestimmung zu ignorieren.
Zur Sicherheit mag mancher dann zu Manualen und „Praxis-Leitlinien“47 greifen, um sich genau nach Vorschrift zu verhalten und die „Gefährlichkeit“ „richtig“ zu beurteilen. Das vermittelt jedoch nur eine Illusion von Sicherheit, wenn das Gegenüber nicht ausreichend einbezogen wird.
Ein möglichst vertrauensvolles, aufmerksam geführtes, lebendiges Gespräch dagegen – ähnlich einem Kunstwerk – kann eine integrative Wirkung auf die chaotisch auseinanderdriftenden Gefühle eines Patienten haben, Struktur und Legitimität vermitteln, und so zu seiner Entscheidungsfindung beitragen ohne die Eigenständigkeit zu unterdrücken. Es kann auch dem Mitarbeiter helfen beim Umgang mit der Angst vor unkontrollierter “Gefährlichkeit” in der Psychiatrie. Denn gegenüber der blinden Befolgung von Anweisungen, die Kontrolle und Behrrschung versprechen, wachsen beim Gespräch Vertrautheit und Nähe mit dem Patienten.
f. Verbreiteter Machbarkeitswahn.
Es gibt keine „Problemlösungskompetenz“, darauf weist BAZON BROCK hin, nur „Problemschaffungskompetenz“. Es empfiehlt sich, diese Feststellung48 angesichts eines verbreiteten „Machbarkeitswahns“ zu beachten:
“Den Medizinern schien der individuelle Körper gestaltbar und optimierbar zu sein, womit in der Konsequenz der Versuch der Normierung, Quantifizierung und Kategorisierung der biologischen Eigenschaften verbunden wurde: ‚Im modernen Umgang mit dem Körper ging es (…) vor allem um die Steigerung seiner Potenziale, um die Rationalisierung seiner Praxis, um die Optimierung seiner Leistung und um die Verbesserung seiner Gesundheit’, heißt es bei PAULA DIEHL, die über Körperbilder und Körperpraxen des NS gearbeitet hat. Dass der so (ab-) gestimmte Mensch Höchstleistungen vollbringen und anderen Individuen und Kollektiven überlegen sein könnte, war ein Gedanke, der in unterschiedlichen Varianten der Utopie vom ‚Neuen Menschen’ zu finden war – und in der NS-Ideologie der (Wieder-)‚Hervorbringung des Ariers’ artikuliert wurde.“49
BROCK hält dagegen:
„Psychologen erkannten den Verlust des Wirklichkeitssinns durch Allmachtsphantasien von Tätertypen aller Handlungsfelder. Zur heilenden Selbsterkenntnis führt das Einverständnis mit der je eigenen Beschränktheit in Wissen, Können und Haben. (…)Der Mediziner weiß, dass nicht er heilt, sondern die Natur. Er verpflichtet sich vielmehr der kuratorischen Anstrengung, den Kranken optimal beim Umgang mit seinem Leiden anzuleiten.“50
Dem Experten ordnet BROCK den „Diplom-Patienten“ zu, den wir abschließend vorstellen möchten.
Inwieweit die Informationen von „erfasst, verfolgt, vernichtet.“ die Besucher sensibilisiert, vergleichbaren Gefahren in der aktuellen Psychiatrie51 kritisch zu begegnen, sei dahingestellt. Der „Profi-Patient“ wird jedenfalls dringend gewarnt sein.52
BROCK erläutert: „Professionalisierung (von Patienten, d. Red.) heißt, jemandem durch Vormachen, Demonstrieren, durch ein Beispiel geben zeigen, wie man seine Impulse, aktiv werden zu wollen, auch sinnvoll in die Wege leitet und vor allen Dingen, wie man sich selbst dabei stabilisiert und nicht die Erfahrung macht, man hätte zwar alles versucht, aber es sei alles vergeblich gewesen. Denn bei Spontanimpulsen des Handelns ist das Gefährlichste, dass nach kurzer Zeit die Beteiligten das Gefühl haben, es war ja alles für die Katz‘.
Das ist sehr gefährlich für die Beteiligten selbst, nicht nur, weil es zu Resignation führt, sondern es führt zum Verlust der Selbstwürdigung. (…) Im Grundgesetz steht: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar.’ Die unantastbare Würde ist aber nur dann gegeben, wenn jemand gewürdigt wird. Also ist Würde nur durch Würdigung möglich. Man muss also lernen, etwas angemessen zu würdigen.“
Gerade für die Psychiatrie sind einige weitere Bemerkungenvon BROCK interessant:
“Die wahre Aufklärung heißt, wer auf Rationalität besteht, muss lernen, einen vernünftigen Gebrauch von der Unvernunft zu machen. (…) Er (der Profi-Patient, die Red.) ist in der Lage, mit sich selbst als Gegenstand seines eigenen Handelns umzugehen. Das nennt man Reflexivität. Er hat ein wohlverstandenes Interesse an sich selbst, denn er will lernen, sich selbst zu würdigen, und dazu muss er anderes würdigen können, dazu braucht er gewisse Kenntnisse und Vorgaben. Dazu gehört auch das Wissen, dass es jenseits der Rationalität auch das Irrationale gibt, erst beides macht uns zu Weltbürgern, die sich nicht mehr als angeblich rationale Wesen von anderen angeblich irrationalen Kulturen abschotten.“53
Menschen mit sehr schweren psychischen und geistigen Störungen und in Krisen sind entsprechend zu unterstützen. Disability studies forschen darüber.54
Es gibt kein Allheilmittel gegen Gewaltausübung, wenn Psychiatriemitarbeiter die Selbstbestimmung von Patienten übergehen. Aufklärung, Bildung und Ermutigung55 auch Angehöriger und potentieller Patienten können jedoch präventiv wirken.56 Literatur Film und Fernsehen sowie Musikbranche sind gefordert mitzuwirken. Vorbildlich das Engagement der Rocksängerin NINA HAGEN in der Psychiatrie.57
Es wäre für Besucher der DGPPN-Ausstellung hilfreich Gelegenheit zu bekommen, Fragen zum historischen Geschehen der NS-Euthanasie, und Probleme in ihrer Akualitär für die heutige Psychiatrie bzw. Kirche und Diakonie diskutieren zu können.
Eine Wanderausstellung wie „erfasst, erfolgt, vernichtet.“ bietet gute Voraussetzungen zur Auseinandersetzung, da die jeweiligen Veranstalter der Ausstellung ein entsprechendes Begleitprogramm organisieren können.
Mögliche Fragestellungen dafür wurden in diesen Anmerkungen kurz angesprochen. Es fehlen wichtige und brisante Themen wie „Angehörige in der NS-Euthanasie“, auf die wir hier nicht eingehen konnten. Ebenso fehlt das Thema „Wiedergutmachungsleistungen“ an die Opfer, die hinsichtlich der Gleichstellung der NS-Euthanasie Opfer mit den anderen Opfern der NS-Diktatur erst 2011 einen Erfolg verbuchen konnten.58
Gedenken bedeutet also nicht Abhaken und zu den Akten legen.
Sorgen wir durch anhaltende Auseinandersetzung mit der NS-Euthanasie dafür, dass so ein Massenmord sich nicht wiederholen kann, und verhindern auch allererste Ansätzen von Verletzung der Selbstbestimmungsrechte von Psychiatriepatienten und Menschen mit Behinderung. Daran müsste jeder das größte Interesse haben, denn psychische Krankheit und Behinderung können jeden treffen.
Ganz zum Schluss sei noch daran erinnert, dass das Credo der EREPRO gGmbH („Ein Recht auf Probleme“) aus der Beschäftigung mit der NS-Euthanasie entstand:
„Die Initiative EREPRO setzt sich dafür ein,
dass Lebensvielfalt einschließlich ihrer problematischen Seiten akzeptiert wird,
und lehnt den herrschenden Trend zum „Funktionieren um jeden Preis“ ab.
EREPRO fordert, dass Menschen mit Problemen sich nicht verstecken müssen,
da sie ebenso viel Beachtung verdienen wie jeder andere.“
Anmerkungen
Abrufdatum aller links 13.5.2014
1 GÖTZ ALY, Die Belasteten, 2013, S. 61
2 Zitat des Hausvaters HERMANN: „Mit schwerem Herzen schicke ich die Bögen heute an Sie. Es sind darauf Menschen geschrieben, die uns von Behörden und Privaten anvertraut sind, damit wir ihnen alle Sorgfalt und Liebe angedeihen lassen. Es war mir eine Freude, diesen Menschen zu dienen. Jetzt soll ich sie dem Tod ausliefern ‚aus Gehorsam gegen die Obrigkeit’“ 25.10.1940, Ausstellungskatalog S. 9
s. auch GÖTZ ALY, Die Belasteten, 2013, S. 38
3 THOMAS BEDDIES, Die Geschichte von „Euthanasie“ und Zwangssterilisierung aus heutiger Kenntnis. o. J.
4 Monatszeitschrift Kinderheilkunde, Band 159, Supplement 1, Januar 2011
http://www.aerzteblatt.de/archiv/79245/Kinderheilkunde-in-der-NS-Zeit-Sozialsanitaeres-Grossprojekt-Arzt-am-Volkskoerper
und http://www.dgkj.de/
5 http://www.deutschlandfunk.de/psychiatrie-im-nationalsozialismus.1148.de.html?dram:article_id=180672
6 http://www.krankenhaushasser.de/html/euthanasie.html
7 s. MICHAEL SCHWARTZ, 1998, “Euthanasie”-Debatten in Deutschland (1895-1945), Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg 46, Heft 4, http://www.ifz-muenchen.de/vierteljahrshefte/vfz-archiv-und-recherche/vfz-download-1953-2008/
8 Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der DGPPN unter Leitung von VOLKER ROELKE
9 http://www.kultur-punkt.ch/akademie4/kooperation-swr2/swr2-aula11-6brock-profiweltbuerger.htm
10 http://www.sigrid-falkenstein.de/euthanasie/t4_gedenken.htm
zu Gedenkveranstaltungen auf dem T4-Grundstück in Berlin s. FRICKE. R., Späte Anerkennung der T4-Opfer, in: Psychosoziale Umschau 2/14, S. 14
11 s. Dokumentation von HERBERT IMMENKÖTTER, „Menschen aus unserer Mitte. Die Opfer von Zwangssterilisation und Euthanasie im Dominikus-Ringeisen-Werk Ursberg“, auf die GÖTZ ALY in seinem Buch „Die Belasteten“, 2013 hinweist. –
12 FRICKE (a.a.O) erwähnt die Stolpersteine: „Die Stolpersteine sind kubische Betonsteine mit einer Kantenlänge von 96 × 96 Millimeter und einer Höhe von 100 Millimetern, auf deren Oberseite sich eine individuell beschriftete Messingplatte befindet. Sie werden in der Regel vor den letzten frei gewählten Wohnhäusern der NS-Opfer niveaugleich in das Pflaster des Gehweges eingelassen.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Stolpersteine
s. GÖTZ ALY, Opfer ohne Namen, FR, 27.8.2012 http://www.fr-online.de/meinung/kolumne-opfer-ohne-namen,1472602,16982316.html
13 http://www.ffmhist.de/ffm33-45/portal01/portal01.php?ziel=t_ak_euthanasie_prozesse
14 https://sites.google.com/site/euthanasiestiftung/juristische-aufarbeitung
15 ANDREA HAUSER, Das Leben verteidigen – die wechselvolle Geschichte der „Euthanasie“.
16 THOMAS STÖCKLE, Das Denkmal der grauen Busse – Stuttgart 2009 und 2010. 70 Jahre Beginn der „Euthanasie“-Verbrechen in Deutschland. PDF Dokument.
17 http://www.theologe.de/euthanasie.htm
18 s. Ausstellungskatalog S. 106
19 s. Geheime Reichssache, „Euthanasie“ – Aktion T 4, Die Ermordung von kranken und behinderten Menschen der Heil- und Pflegeanstalt Stetten in Grafeneck
20 http://www.readers-edition.de/2012/04/07/%E2%80%9Ealles-kranke-ist-last%E2%80%9C-%E2%80%93-euthanasie-im-dritten-reich/
21 https://sites.google.com/site/euthanasiestiftung/widerstand-gegen-die-euthanasie–aktionen/pastor-paul-gerhard-braune
22 http://bismarckgymmi.bi.funpic.de/projekte/geschichte/projekt2/arbeit2gruppe3.php
23 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46163172.html
24 http://bismarckgymmi.bi.funpic.de/projekte/geschichte/projekt2/arbeit2gruppe3.php
25 s. Ausstellungskatalog S. 70
26 BEDDIES a.a.O.
27 “Verstehen und Gedenken. Psychiatrie im Nationalsozialismus – Lernen mit der Geschichte? MICHAEL WUNDER „Mit der Geschichte für die Zukunft lernen.“ Berlin, 3.September 2010
28 s. hilfe Blätter von EREPRO Nr. 14 „’Die Würde des Klienten ist un…’?“und Nr. 15 „Wer kann selbstbestimmen? Reformbedarf in der Psychiatrie.“
29 In einer Zuschrift an das Evangelische Sonntagsblatt aus Bayern Nr. 50 vom 10.12.2000
30 http://www.meinungsverbrechen.de/tag/kirchen/ darin
„Vernichtung lebensunwerten Lebens“, von Ernst Klee und Gunnar Petrich (ARD 1988)
31 zit. nach Ernst Klee, Die SA Jesu Christi, 1989, S. 88. sichten-und-vernichten
32 s. Nürnberger Kodex von 1947. N%C3%BCrnberger_Kodex und
Stichwort „informierte Einwilligung“ bei Wikipedia. Informierte_Einwilligung#Inhalt_und_Umfang
Zur Diskussion dieses Themas s. hilfe Blätter von EREPRO Nr. 14 „’Die Würde des Klienten ist un…’?“
33 zur genaueren Diskussion der Selbstbestimmung s. hilfe Blätter von Erepro Nr. 15 „Wer kann selbst bestimmen?“
34 http://de.wikipedia.org/wiki/Posener_Reden
35 s. dazu M. Krisor, H. Pfannkuch Hrsg. 1997, Was Du nicht willst, das man Dir tut. Gemeindepsychiatrie unter ethischen Aspekten.
36 http://www.meinungsverbrechen.de/tag/kardinal-von-faulhaber/
und HANS LAUERER, Das Menschenleben in der Wertung Gottes, 1939; zit. nach KLEE, Die SA Jesu Christi, a.a.O., S. 180 f, s. http://www.theologe.de/euthanasie.htm
37 http://www.theologe.de/euthanasie.htm und
http://www.landesbischof-meiser.de/wesen-und-wirken/verhaeltnis-zur-staatsgewalt.php
38 http://www.meinungsverbrechen.de/tag/kardinal-von-faulhaber/
40 www.bruckberg-evangelisch.de/
41 Formulierung von GUSTAV SEIBT, Niemand ist auf der sicheren Seite. Laudatio auf GÖTZ ALY zum HEINRICH-MANN-Preis der Akademie der Künste in Berlin am 3. Mai 2002
42 http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/2148378/Manfred-Luetz-bei-Volle-Kanne#/beitrag/video/2148378/Manfred-Luetz-bei-Volle-Kanne
43 BEDDIES a.a.O.
44 HANS-WERNER SCHMUHL zit. nach http://138.232.99.50/bilder/piclist2.php?-skip=5238&-max=12
45 GÖTZ ALY, Die Belasteten, 2013, S. 54f.
46 GÖTZ ALY, Die Belasteten. 2013, S. 57
47 https://www.dgppn.de/publikationen/leitlinien/leitlinien10.html
48 http://www.schwindelderwirklichkeit.de/uber-die-einheit-von-schwindel-und-schwindeln/
49 BEDDIES a.a.O.
50 http://www.denkerei-berlin.de/gruendung/
MANFRED LÜTZ spricht in der oben erwähnten ZDF Sendung davon, dass die Kranken „heilbar“ seien.
51 Dass auch heute nicht immer die Menschenwürde der Patienten respektiert wird, können sie lesen auf „Psychiatrie hinter verschlossenen Türen“ auf www.erepro.de
52 s. hilfe Blätter von EREPRO S. 46 „Selbstfürsorge“.
53 http://www.kultur-punkt.ch/akademie4/kooperation-swr2/swr2-aula11-6brock-profiweltbuerger.htm
54 Wikipedia „Behinderung“. s. auch hilfe Blätter von EREPRO „Wer kann selbst bestimmen?“ S. 33, s. auch Psychosoziale Umschau 2/14, S. 35: UWE HARM, Assistenz vor Stellvertretung, Wie Menschen mit Behinderungen ohne gesetzliche Vertretung unterstützt werden können.
s. Lehmann, Peter Möglichkeiten und Grenzen von Selbstbestimmung in der Krise. Psychosoziale Umschau 2/14, S. 45
55 auch zu Patientenverfügungen s. www.patverfue.de
56 Die in psychiatrischen Kliniken beliebten „psychoedukativen“ Kurse erfüllen diese Anforderungen nicht ausreichend.
57 http://www.youtube.com/watch?v=0VUsRUHC0Pw
58 s. FRICKE a.a.O.