Diagnosen stehen an allen wichtigen Entscheidungspunkten in unserem Gesundheitssystem. In der gültigen “Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme” (ICD 10) – entwickelt von der Weltgesundheitsorganisation – gibt es seit 1948 auch ein Kapitel über psychische Erkrankungen: Ohne spezifische Ursache werden hier Symptomkonstellationen (Syndrome) beschrieben, deren Ursachengefüge meist wenig aussagekräftig als “multifaktoriell” bezeichnet wird.
Das Sozialgesetzbuch V (über Krankenversicherung) verpflichtet in Deutschland Vertragsärzte, Vertragspsychotherapeuten und Krankenhäuser zur Diagnoseverschlüsselung nach ICD 10.1
Bevor die ICD Klassifikation für psychische Störungen erarbeitet wurde, gab es nur Problembeschreibungen auf der Basis ganz unterschiedlicher Werte und Menschenbilder der jeweiligen Psychiater und Psychotherapeuten, die schwer vergleichbar waren. Insofern stellte ein Diagnoseinstrument wie ICD zweifellos in dieser Hinsicht einen Fortschritt dar.
Das ändert aber nichts daran, dass die Darstellung der Problematik eines Menschen ohne Betrachtung der Persönlichkeitsentwicklung und ihrer Dynamik die Hilfsmöglichkeiten einschränkt. Wobei diese statistische Klassifikation oft eine Differenziertheit und Genauigkeit der Erkenntnisse suggeriert, die der tatsächlichen Situation der hilfesuchenden Menschen nicht entspricht.
Auch wenn es utopisch erscheint, sich heute eine Psychiatrie ohne diese diagnostische Charakterisierung der Patienten vorzustellen, sollten wir die folgenden Seufzer eines Patienten und eines Mitarbeiters aus dem alltäglichen Psychiatriebetrieb über die Diagnosestellung nicht überhören. Sie müssen mit dieser Diagnostik leben, an die wir uns so gewöhnt haben.
Nicht jeder in der Psychiatrie wird diese Seufzer nachvollziehen können, sie beruhen aber alle auf nachgewiesenen Phänomenen.2
Zwei Seufzer über die Diagnostik in der Psychiatrie
Stell dir vor, du bist in der Psychiatrie, und es gibt keine Diagnosestellung mehr.
Ist dieser Spruch, der dem geflügelten Wort “Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin” nachempfungen ist, ähnlich irreal wie dieser? Ja, das scheint so, aber – wie dieser Satz – kann er uns anregen, darüber nachzudenken, wie es vielleicht doch anders sein könnte …
1 Als ich den Spruch hörte, war mein erster Gedanke, dann würde ich mir bei Gesprächsbedarf in einer schwierigen Lebenssituation in einer psychiatrischen Einrichtung, die auf die routinemäßige Diagnosestellung verzichtet – einen interessierten, einfühlsamen Diskussionspartner suchen können, um meine Probleme zu besprechen…
… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, dass meine Problem-Erzählung in eine plakative, “einsilbige” Kategorie mit ihren unklaren sozialen und politischen Implikationen gepresst würde, was weitreichende Konsequenzen haben könnte – und mit meiner Angelegenheit wenig bis gar nichts mehr zu tun hätte.3
Bei einer gewissen Erleichterung endlich zu wissen, “was mit mir los ist” – könnte ich alle möglichen sachfremden Auswirkungen gar nicht überblicken.4
… weil ich dann weniger Gefahr laufen würde, dass mein Gesprächspartner in der Psychiatrie mir Entscheidungen abnehmen oder aufdrücken wollen würde.
… weil ich dann weniger Gefahr laufen würde, mit Erwartungen konfrontiert zu werden, die zu erfüllen sind, wenn ich als “psychisch gesund” und “normal” gelten will, und bei mir nicht jeder Gag, Spaß und Blödsinn mit Argusaugen auf potentielle “Unvernunft” beäugt würde. Und weil auch ich selbst dann nicht mehr jedes Erleben darauf befragen müsste, ob es “normal” ist.5
… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, dass bei mir unerwünschte Entwicklungen eintreten im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung durch mir zugeschriebene “Symptome”, wie beispielsweise eine besondere Verletzlichkeit und Stressempfindlichkeit entsprechend der “Vulnerabilitätstheorie”.6
… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, dass meine Angehörigen und Freunde einen Schock bekämen durch das Diagnose-Etikett an meiner Stirn, und sich ihr Verhalten mir gegenüber ändert, so dass die Beziehung nur noch durch diesen Filter erlebt würde.
… weil ich dann nicht mehr mehr Gefahr laufen würde, dass meine Bezugspersonen im Wissen um meine Diagnose durch gelegentliches “ungewöhnliches” Verhalten von mir beunruhigt und verängstigt werden, und beginnen den Kontakt zu mir zu meiden, sondern – im Gegenteil – beruhigt sein könnten, weil sie im Gespräch mit meinem Therapeuten feststellen, dass er/sie mir (ohne Diagnose-Klischee im Kopf) respektvoll und auf Augenhöhe begegnet.
… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, aus dem weiteren Ablauf meines Lebens heraus zu fallen durch eine unverhältnismäßig lange Auszeit in einer psychiatrischen Klinik, wie bei bestimmten Diagnosen üblich. Und meine Arbeitsstelle nicht gefährdet wäre durch diese Art von “Hilfe”.
… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, wegen der Diagnose als “psychisch krank” bezeichnet zu werden – wenn nicht gar als “gefährlich”, und so zu einer randständigen gesellschaftlichen Gruppen gehören würde, was mich wahrscheinlich Ansehen bei meinen Mitmenschen kosten würde, und wohl im Laufe der Zeit einen sozialen Abstieg bedeutete.
… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, dass man eine “Prognose” erfände über meine zukünftige Entwicklung, obwohl niemand über prophetische Fähigkeiten verfügt.
… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, dass mir die zu der Diagnose “passenden” Medikamente verordnet würden.
… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, wegen der “Allmachtsvorstellung einer leidenslosen Gesellschaft”6 in der Psychiatrie meine “Symptome” nicht behalten zu dürfen, weil ich mich mit ihnen wohler fühle als in dem trostlosen Zustand nach Einnahme von Psychopharmaka. Denn welcher Psychiater macht sich schon die Mühe, die Medikation so niedrig wie möglich zu halten, und sie gemeinsam mit mir genau auf meine Person und meine wechselnden Zustände auszurichten.
… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, dass ich mir am Ende sogar das schwer zu löschende Stigma “chronisch” einhandle – wenn sich mein Problem nicht in einer absehbaren Zeit erledigt, oder sich gar wiederholt – wegen dieser ausgeprägten “Fortschritts-Fixierung” in der Psychiatrie mit der möglichen Folge, dass ich wegen dieser diagnostischen Einordnung die psychiatrischen “Retter” nie wieder los werde.
2 Als ich den Spruch hörte, war mein erster Gedanke, ich könnte dann als Mitarbeiter in einer psychiatrischen Einrichtung ohne Routine-Diagnosestellung bessere Arbeit leisten, z.B. leichter eine gute Beziehung aufbauen im Gespräch mit Menschen über ihre Anliegen…
… weil ich dann nicht gezwungen wäre, mich über meine Gesprächspartner*in zu stellen, indem ich sie/ ihn beurteile und über Persönlichkeit und Entwicklung entscheide in der üblichen “Oben-Unten-Beziehung” (Groth).
… weil ich dann weniger gezwungen wäre, mich bei solchen Gespächen an die Leitlinienn für bestimmte Diagnosen zu halten, die meine Unvoreingenommenheit erheblich einschränken, wenn sie beispielsweise ethnische Minderheiten per se als besondere Risikogruppe beschreiben.7
… weil ich dann weniger gezwungen wäre, besonders Berührendes im zwischenmenschlichen Gespräch in meinem Bericht weg zulassen, weil die Fragebögen in den Handbüchern das nicht vorsehen.
… weil ich dann nicht gezwungen wäre, während des Gespräches, beim Kennenlernen schon nach möglichen Symptomen zu fahnden, die in Diagnostik-Handbüchern beschrieben sind, anstelle einer ergebnisoffenen Einstellung zu dem Patienten. Und durch die geforderte Differenzierung der Diagnose entsprechend der Checklisten, könnte ich meine Aufmerksamkeit nicht genügend auf die eigentliche Thematik des Gesprächspartners lenken.
… weil ich dann nicht gezwungen wäre, den Kennenlernprozess in die vorgegebene Richtung des Anamneseschemas zu lenken, wie die “psychopathologische Exploration” es vorsieht, sondern mehr der lebendigen Entwicklung des Gesprächsverlaufs folgen könnte.
… weil ich dann nicht gezwungen wäre, in offiziellen Verlautbarungen über meinen Gesprächspartner, der Hilfe sucht, Ungenauigkeiten, Missverständnisse und Einseitigkeiten in Kauf zu nehmen durch den Gebrauch von vorgeschriebenen Diagnosen-Klischees.8
… weil ich dann nicht mehr gezwungen wäre (wenn mir die offizielle Diagnose von Hilfesuchenden bekannt ist), gegen meine eigenen Erwartungen und Vorurteile über diese Menschen ankämpfen zu müssen, denn das erschwert natürlich eine gute Beziehung.
… weil ich dann nicht mehr gezwungen wäre, aufklärende Anti-Stigma Arbeit zu leisten, die zum großen Teil erst durch das Diagnostizieren nötig wird.9
… weil ich dann nicht mehr gezwungen wäre, immer wieder damit zu rechnen, dass die offiziellen Diagnosen sogar von Fachleuten wie unhinterfragbare, eindeutige Eigenschaften, die jemand “hat”, behandelt werden.10
… weil ich dann nicht mehr gezwungen wäre, Vorstellungen von “funktionieren” und angepasstem Verhalten11 entgegen meinen Überzeugungen als Maßstab für Normalität von meinem Gesprächspartner zu fordern, anstatt sein Schicksal akzeptieren zu dürfen.12
… weil ich dann nicht mehr gezwungen wäre, die Ablehnung von Sozialleistungen für die Betroffenen (wie die Finanzierung von Ausbildungen, Beförderungen etc.) in Kauf zu nehmen, wenn ich konsequent keine Diagnosen stellen würde. Beispielsweise eröffnet eine Diagnose erst die Möglichkeit für eine kassenfinanzierte Psychotherapie.13
… weil ich dann nicht mehr gezwungen wäre, bestimmtem Verhalten einen Krankheitswert zuzuschreiben und Symptome zu benennen, die daraufhin Gegenstand von Veränderungs-Wünschen insbesondere der Psychotherapeuten werden könnten. Die würden sich dann auch weniger gezwungen fühlen, die persönlichen Entwicklungsprozesse und die Wünsche der Klienten zu übergehen, und könnten ihnen selbst die Frage überlassen, was sie ändern wollen, und wie viel Leiden ihnen selbst akzeptabel erscheint.14
… weil ich dann weniger gezwungen wäre die Psychiatrie als medizinisches Teilgebiet aufzufassen, sondern mich mit mehr Aussicht auf Erfolg dafür einsetzen könnte, dass sie eines Tages in erster Linie sozialwissenschaftlich begründet ist.15
Dieser kurze Beitrag ist keine grundlegende Erörterung des Themenkomplexes Diagnostik in Psychiatrie und klinischer Psychologie. Er will aber daran erinnern, welche Probleme mit der Diagnosestellung zwangsläufig verbunden sind – ob die Diagnose sich nun auf Selbstbeschreibungen bzw. Selbstbeurteilungen der Hilfesuchenden (wie beim Freiburger Persönlichkeitsinventar) oder auf Verhaltensbeobachtung (wie beim ICD) bezieht.
Auch wenn Diagnostik und Tests allen Regeln der Testkonstruktion entsprächen, die bei der Einordnung nach ICD oder DSM in der Praxis ohnehin sträflich vernachlässigt werden, ist die Kritik an der psychiatrischen Diagnostik auch von wissenschaftlicher Seite sehr deutlich vernehmbar.16
Die Seufzer derjenigen, die in der psychiatrischen Praxis mit dieser Diagnostik zu tun haben, die ihre Folgen und Wirkungen immer wieder erleben, dürfen nicht überhört oder vergessen werden, weil dadurch in der Psychiatrie doch sehr viel “Un-heil” angerichtet wird.
Anmerkungen:
1 Wikipedia https://de.m.wikipedia.org/wiki/Internationale_statistische_Klassifikation_der_Krankheiten_und_verwandter_Gesundheitsprobleme
http://www.icd-code.de/
2 Die Sendung Frontal 21 zeigte einige Beispiele : Fatale Falschdiagnose. Abgestempelt. 10.10.2017 (Viodeo verfügbar bis 10.10.2018) https://www.zdf.de/politik/frontal-21/frontal-21-vom-10-oktober-2017-100.html
3 Katja Diefenbach, Von Schrebers Seite. Die Schwierigkeit, die Vern1unft von der Unvernunft zu trennen. NDR, Kulturjournal Sonntag 21.06 1998
4 s. Anm. 2
s. Manfred Wiesner, Eugene Epstein & Lothar Duda, Wilhelmshaven: SPRACHEMACHTSINN – Die Krise der Psychotherapie und der Weg zu einer posttherapeutischen Zukunft. http://systemagazin.com/sprachemachtsinn-die-krise-der-
psychotherapie-und-der-weg-zu-einer-posttherapeutischen-zukunft
5 Henning Burk, Befreiung des Wahnsinns von der Knechtschaft der Normalität. Frankfurter Rundschau 18. September 2001
6 Karsten Groth, Die unendliche und die endliche Psychiatrie. Über den Umgang mit Chronizität, Zeit und Verantwortung und die Opfer alter und neuer Krankheitskonzepte. Soziale Psychiatrie, 4/2004 S. 2.
zur Vulnerabilität: DGPPN Leitlinie Schizophrenie, C. Kurzversion. S3_Schizo_Kurzversion-6.pdf
7 Zitat aus DGPPN Leitlinie Schizophrenie, C. Kurzversion: “Prognostische Faktoren, die den Verlauf der Schizophrenie ungünstig beeinflussen, sind eine familiäre Vorbelastung, d. h. psychische Erkrankungen in der Familie, männliches Geschlecht, eine lange Prodromalphase bzw. ein verzögerter Krankheitsbeginn, kognitive Dysfunktion, niedrige prämorbide Intelligenz (IQ) und Negativsymptomatik, eine schlechte prämorbide soziale Anpassung und eine fehlende stabile Partnerschaft, psychosozialer Stress und ein belastendes familiäres Klima (High-EE), Geburtskomplikationen sowie ethnischer Minderheitenstatus oder -ursprung.” S.186
8 Was heißt schon schizophren? FAZ vom 17.7.2017: “Schizophrenie sei eigentlich nur ein Sammelbegriff für eine bunte Mixtur ganz verschiedene Syndrome, die in der Regel völlig verschiedene Ursachen hätten”, Ludger Tebartz van Elst, Freiburger Neuropsychiater.
s. auch Kellmann, M. Teilhabenichtse, Sozialpsychiatrische informationen 47. Jahrgang 4/2017, S. 44
s. auch Hubert, Martin Zudröhnen oder Ausschleichen.Die neuen Pfade der Psychiatrie. www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/dok5/download-psychiatire-psychopharmaka-100.html (abgerufen aam 10.10.2017).
s. Radiointerview mit Martin Zinkler, Oktober 2017, http://vielfalter.podspot.de/files/VielFalter-02-10-17.mp3
9 Jana Hauschildt, Das Unbehagen bleibt. Millionen Euro werden in den vergangenen Jahren in Kampagnen gegen Stigmatisierung psychisch kranker Menschen investiert… SZ 8.4.2014
10 wie Beispielsweise im Interview Josef Bäuml SZ vom 15.06 Juli 2017,
s. auch Markus Jäger, Diagnostik aus Sicht des Psychiaters – eine kritische Auseinandersetzung. Sozialpsychiatrische Informationen 4/2016, S. 9
11 Schlimme, Jan E., Birgit Hase, Amelie Palmer, Was sollen eigentlich Diagnosen? Nachteil und Nutzen eine Schizophrenie-Diagnose im Genesungsverlauf. Sozialpsychiatrische Informationen 4 /2016, S. 40
12 s. hilfe Blätter von EREPRO Nr. 16, 2017, S. 19 u.a.
s. auch Helmut Stolze, Grenzen des Heilens – heilende Grenzüberschreitungen. Gedanken aus der psychotherapeutischen Praxis. Prax Psychother und Psychosom 1989, 34:297 – 303
13 s. Christian Weber, Irrsinn ist menschlich. SZ 22./23.Juni 2013
14 s. Fast ein Streitgespräch. Klaus Dörner trifft Peter Brieger. Sozialpsychiatrische Informationen 4/2016, S 12
15 Rechlin, J. Vliegen , 2013, Die Psychiatrie in der Kritik: Die antipsychiatrische Szene und ihre Bedeutung für die klinische Psychiatrie heute. Umfassende – wenn auch nicht unbedingt posotive – Darstellung antipsychiatrischer Ansätze in der Psychiatrie.
16 Wikipedia, Testtheorie. https://de.wikipedia.org/wiki/Testtheorie_(Psychologie)
Wikipedia, Freiburger Persönlichkeitsinventar, https://de.wikipedia.org/wiki/Freiburger_Pers%C3%B6nlichkeitsinventar
s. TBS-TK Rezension: Freiburger Persönlichkeitsinventar Prof. Dr. Sonja Rohrmann, Goethe Universität Frankfurt am Main & Prof. Dr. Frank M. Spinath, Universität des Saarlandes
http://www.bdp-verband.de/psychologie/testrezensionen/FPI_R.pdf