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TSVG I

Internetrecherche
Irgendwas läuft schief…
Es geht im folgenden um das “Terminservice- und Versorgungsgesetz” (TSVG). Der Protest gegen den Gesetzentwurf wird kurz beschrieben und die Frage nach der Notwendigkeit des Gesetzes gestellt. Die überfällige Kooperation und Koordination zwischen verschiedenen Psychotherapieschulen wird hervorgehoben. Unsere Schlussfolgerungen betreffen Angebote für schwer erreichbare Klienten, Fehlplatzierungen, die Berücksichtigung des sozialen Kontextes des Patienten in der Therapie, die Frage nach der telefonischen Vermittlung von Therapieplätzen und schließlich die Forderung einer neuen Enquête zur Lage der Psychiatrie im Internetzeitalter.

Irgendwas läuft schief, stellt Wolfgang van den Bergh in der Ärztezeitung fest. Gemeint ist das “Terminservice- und Versorgungsgesetz” (TSVG),  auch “Gesetz Lütz” genannt1, dessen Entwurf Gesundheitsminister Jens Spahn vor einiger Zeit auf den Weg brachte.2
Das TSVG soll unter anderem Lösungen anbieten zur besseren Orientierung von Patienten bei der Suche nach Hilfen für ihre Probleme (z. B. obligate 25 Sprechstunden/Woche) und dem Mangel an Therapieplätzen abhelfen durch passende Zuweisung von Patienten an Psychotherapeuten.

Der Protest
Während der GKV-Spitzenverband der Krankenkassen das Gesetz lobt3, hat der Vorschlag, Psychotherapieplätze durch externe Fachkräfte vergeben zu lassen, bei ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten einen Sturm der Entrüstung entfacht. Sie empfinden das u.a. als zusätzliche Zugangshürde zu ihren Praxen.

Eine Protestpetition fand mehr als 200.000 Unterstützer und ist heute schon an Stammtischen Thema.4 Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass die vielen protestierenden gesellschaftlichen Gruppen sich oft wortgleich äußern und kaum eigene Überlegungen anbieten.
Der Ablehnung dieses Vorschlags des Gesundheitsministeriums standen somit kaum alternative Ideen gegenüber, wie das Problem der monatelangen Wartezeiten auf Psychotherapieplätze zu lösen sei. Das Argument der Therapeuten, die freie Wahl des Psychotherapeuten sei durch das TSVG nicht mehr gegeben, zieht nicht richtig, da diese Freiheit durch die knappen Plätze ohnehin sehr eingeschränkt ist.
Die am 1.4.2018 vom Gesetzgeber eingerichtete “Psychotherapeutische Sprechstunde”6 der jeweiligen Therapeuten reiche aus, weil sie ohne zusätzliche Prüfung durch externe Fachkräfte selbst feststellen können, ob psychotherapeutische Behandlung wirklich notwendig sei.

In dem Zusammenhang beklagt man eine “Misstrauenskultur”, den Verlust an Respekt und Achtung vor den Ärzten.Wobei die lautstarke und wortreiche Entrüstung der Therapeuten für einige interessierte Außenstehende tatsächlich die psychotherapeutische Fachwelt in einem etwas dubiosen Licht erscheinen lässt. Und mancher fragt sich, welche Bedeutung in diesen Auseinandersetzungen auch einer gewissen, ab und zu durchscheinenden Grandiosität von Psychotherapeuten zukommt.

Erfrischend  ist jedenfalls folgender Aufruf zum zivilen Ungehorsam:
“Stellen wir uns vor, wir sollen unsere Termine an die Terminservicestellen melden – und keiner macht mit! Stellen wir uns vor, dass man uns zu 25 Pflichtsprechstunden in der Woche verdonnert – und keiner arbeitet mehr als das Geforderte. Und hat stattdessen Zeit für Privatsprechstunden. Stellen wir uns vor, es sollen 5 offene Sprechstunden pro Woche angeboten werden – und keiner tut es.”8

Eine Petition auf change.org erzielte mehr als 16.245  Unterschriften und wendet sich besonders gegen die vonJens Spahn geplante, reglementierende “Staatsmedizin”.9

Notwendigkeit des TSVG?
Die Fachgesellschaft “Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde” (DGPPN) erkennt immerhin Handlungsbedarf:
“Das gut ausgestattete, aber auch hochfragmentierte deutsche Versorgungssystem ist nicht nur von hilfesuchenden Menschen, sondern auch von den dort professionell Tätigen kaum noch zu überschauen und deshalb schwierig zu navigieren, was gerade für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen gravierende Folgen hat.”10

Mit der Vorschrift einer ”gestuften und  gesteuerten Vermittlung” im TSVG wollte das Gesundheitsministerium allerdings  vermutlich zu viele Fliegen mit einer Klappe schlagen:
>Die Spreu vom Weizen trennen und feststellen, wer “wirklich” psychisch krank ist,
>Patienten Informationen über Therapiemöglichkeiten bieten,
>Wartezeiten auf einen Therapieplatz verkürzen,
>Niederschwelligkeit des Zugangs  zu den Hilfen herstellen,
>effektivere Nutzung des psychotherapeutischen Angebotes – durch bessere Erreichbarkeit der  Psychotherapeuten,11
>die Kooperation zwischen den verschiedenen Therapeuten und Therapieverbänden verbessern,
>und last but not least: “Zuführung” besonders der “schwer erreichbaren” und eigensinnigen Klienten zu psychotherapeutischen Hilfen.12
Das konnte so nicht gelingen, obwohl man diesen Problemen ihre Aktualität wohl kaum absprechen wird.

Überfällige Kooperation und Koordination
Jetzt ist Jens Spahn bereit, das TSGV neu zu verhandeln. “Kassenärztliche Bundesvereinigung und Bundespsychotherapeuten­kammer sollen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gemeinsam einen Vorschlag vorlegen, wie schwer psychisch kranke Patienten deutlich schneller als bisher eine Therapie erhalten können.”13
Die zerstrittenen Psychotherapeuten verschiedener Schulen und ihre Verbände, deren  mangelhafte Zusammenarbeit bereits in der “Enquête zur Lage der Psychiatrie” von 1975 beklagt  wurde, sind jetzt gefordert, koordinierte Konzepte vorzulegen. Das dürfte mit einigen Schwierigkeiten verbunden sein. Auch wenn der aktuelle Protest vorläufig alle zu verbinden scheint, besteht doch immer noch eine Tendenz, beispielsweise neuere Entwicklungen in der Psychiatrie als neue “Schulen” zu präsentieren, anstatt vorhandenes Wissen zu ergänzen  und weiterzuentwickeln. Eine sinnvolle Integration der verschiedenen Ansätze im Interesse der Patienten ist niemals realisiert worden.14

Die DGPPN dazu:
“Schon im Bericht der Psychiatrie-Enquête von 1975 wurde in Westdeutschland die fehlende, verbindliche und strukturierte Kooperation der Leistungserbringer als Defizit beschrieben. Auch das im Juli 2018 veröffentlichte Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen
empfiehlt eine bedarfsgerechte Steuerung der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Neben dem Ausbau der ambulanten und tagesklinischen Kapazitäten wird dort die klare Verortung der Koordinationsverantwortung für die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen gefordert.“15

Die Schwierigkeiten in der psychiatrischen Versorgung sind allein mit dem TSVG natürlich nicht zu lösen. Schon gar nicht mit Androhung von Druck und Zwang.
Die Psychotherapieverbände jedoch schlagen als Lösung der augenfälligen Probleme u.a. schlicht eine Aufstockung der Psychotherapieplätze vor.16 Und neben einer Evaluation der Terminservicestellen (TSS) eine befristete Aufhebung der Zulassungsbeschränkungen wie im TSVG für Innere Medizin, Rheumatologie und Kinderheilkunde vorgesehen.17

Letzte Meldung des “Kollegennetzwerkes”: Spahn hat 3000 bis 3500  neue Zulassungen für Psychotherapiepeaxen versprochen.18

Unsere Schlussfolgerungen
1. Angebote für “schwer erreichbare” Klienten
Die geplante “Zuführung” besonders der “schwer erreichbaren” Klienten zu psychotherapeutischen Hilfen wird mit den vorgesehenen Vermittlungsgesprächen eher schlecht gelingen.
Es geht um Menschen mit großen psychischen Problemen, die sich der üblichen Behandlung entziehen, die keine Kommstruktur gewohnt sind, die  mit dem unsäglichen Begriff “Wartezimmerunfähige” belegt werden.19
Viele niedergelassene Psychotherapeuten sind immer noch der Meinung:  ”schwierige Fälle gehören stationär untergebracht”. Solange für diese Therapeuten, die sprichwörtliche “freie Patientenwahl” besteht, wird sich wohl nicht viel an der Zugänglichkeit der Psychotherapie für schwer erreichbare Klienten ändern.20
Jeder Praktiker weiß auch, dass psychiatrische Kliniken in der Regel wenig Anstrengung unternehmen, nach Klinikentlassung an Nachsorgeeinrichtungen oder weitere Therapie Angebote zu vermitteln, und zwar so, dass  Patienten dort auch landen.21

Gerade für diesen Personenkreis müsste die Möglichkeit geschaffen werden, verschiedene Therapieangebote gleichzeitig zu nutzen, bzw.  zwischen ihnen zu wechseln. Beispielsweise regelmäßige Begleitung in einem multiprofessionellen Sozialpsychiatrischen Dienst und gezielte Verhaltenstherapie.
Vorgeschriebene, regelmäßige Gruppenintervision der beteiligten Therapeuten könnte schwierige Vermittlungsaufgaben dann eventuell erleichtern.
Der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer Munz fordert: „Der Gemeinsame Bundesausschuss sollte den Auftrag erhalten, für diese schwer und meist chronisch kranken Patienten eine ambulante multiprofessionelle Versorgung zu ermöglichen.“22
In den bayerischen sozialpsychiatrischen Diensten liegen seit Anfang der 80er Jahre viele Erfahrungen zu einer solchen multiprofessionellen ambulanten Arbeit mit genau dieser Zielgruppe vor. (s. Übersicht über alle Hefte der hilfe Bätter von EREPRO)

2. Fehlplazierungen vermeiden
“Psychotherapie  ist kein „Wieder-Fitmachen“ von Menschen, um am Arbeits- und  Konsumprozess wieder teilnehmen zu können, sondern ein Prozess. Ein  Prozess, der eine Entwicklung beim Patienten in Gang setzen soll, “ so heißt es in einem “Kollegennetzwerk Psychotherapie” für 9000 Psychotherapeuten. In deren wöchentlichem Newsletter wird ein großer Klärungsbedarf für solche Abgrenzungsfragen deutlich.

Das Interesse der Patienten, im Gespräch ihre Person in den Mittelpunkt zu stellen und an persönlichen Entwicklungen zu arbeiten, ist – unserer Erfahrung nach – viel geringer als allgemein angenommen.  Es könnte bei der “diagnostischen Abklärung” in der eigenen Sprechstunde von den Psychotherapeuten überschätzt werden.
“Bei rund 42 Prozent der Ratsuchenden ergibt die diagnostische Abklärung in der Sprechstunde, dass keine  Richtlinienpsychotherapie23 notwendig ist, weil keine krankheitswertige Störung besteht. Psychotherapeuten sollten dann Angebote zur Prävention und Selbsthilfe empfehlen oder an eine Beratungsstelle  verweisen. Je nach Art der Erkrankung können auch eine Krankenhausbehandlung, medizinische Rehabilitation, eine fachärztliche Behandlung oder eine Soziotherapie veranlasst werden.”24
Es gibt also viele Hilfesuchende, denen mit anderen Angeboten wesentlich besser geholfen wäre. Richtlinienpsychotherapie muss häufig “aushelfen”, weil es heute zu wenig andere Auffangsysteme gibt (oder nicht bekannt genug sind!) wie kirchliche Aktivitäten, Vereine, Selbsthilfegruppen, Kontakt- und Beratungsstellen etc..

“Die Einzelpraxis ist kein Auslaufmodell, aber ein Modell von vielen, es braucht mehr Vielfalt und Flexibilität,” bekundet das Bundesgesundheitsministerium.25

Dass Menschen ihren verständnisvollen PsychotherapeutIn mit einem Freund verwechselten, und die Feiertage, an denen sie ihre  Einsamkeit besonders spüren, wie Weihnachten und Ostern mit ihm/ihr verbringen möchten, kann man immer wieder in den Medien lesen.
“Zwischen Heiligabend und Neujahr habe die TSS Leitstelle in Berlin 13.000 Anrufer betreut, sagt Dörthe Arnold, Sprecherin der KV Berlin. Die Beratungsärzte am Telefon konnten 2.000 AnruferInnen bereits am Telefon abschließend helfen.” 26

Wie weit Vielfalt und Flexibilität von Therapie in der Psychiatrie wegen der Festschreibungen durch das obligate klassische ICD-Diagnostizieren in der Richtlinien-Psychotherapie konterkariert wird, stellen wir anheim.27  Diese Etikettierung des Klienten – so unsere Erfahrung – kann gelegentlich den Blick verstellen für die Heilsamkeit von Hilfen außerhalb der eigenen Praxis.

“Patienten, die zu uns kommen, wollen nicht primär ihre Symptome loswerden, sie möchten vor allem, dass es ihnen besser geht, sie möchten mehr Lebensqualität haben und mehr Wohlbefinden verspüren.”28

Es gibt offensichtlich eine beträchtliche Zahl von Fehlplatzierungen in der Richtlinien-Psychotherapie. Das  sollte zu denken geben angesichts fehlender Psychotherapieplätze.29

3. Den sozialen Kontext des Patienten einbeziehen.
Der therapeutische Blick sollte nicht nur auf das Individuum mit seinen Schwiergkeiten gerichtet werden, sondern statt oder neben einer ICD 11 Diagnose schon in der vermittelnden Terminservicestelle eine erste Analyse der Lebensweltfaktoren und der Belastungen in Arbeit und Familie leisten. So  wird eine passendere Zuweisung an nicht psychotherapeutische Hilfsangebote wie einschlägige Beratungsstellen möglich, und dadurch nicht nur die Nachfrage nach Psychotherapieplätzen reduziert, sondern auch eine immer stärkere Pathologisierung unseres Alltags verhindert.
“Wir haben sehr viel Wissen darüber, wie bestimmte Lebensweltfaktoren, Kontextfaktoren in der Arbeits- und Familienwelt Einfluss auf die psychische Gesundheit von Menschen haben”, sagt Heiner Keupp, Vertreter der Gemeindepsychologie.30
Was in den 80er/90er Jahren fast selbstverständlich erschien, nämlich den sozialen Kontext einzubeziehen, tritt heute in der psychiatrischen Arbeit immer mehr zurück.
Deshalb fordern wir eine verbindliche Verpflichtung, diesen lebensweltlichen Aspekt in den Terminservicestellen bei der Vermittlung von Psychiatriepatienten zu berücksichtigen.

4. Telefonische Vermittlung erfolgreicher?
Eine alte Erfahrung der Praktiker in der Psychiatrie: Weitervermittlung von einem Therapeuten zum anderen gelingt selten.
Auch aus den Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen wird über den kritischen Punkt berichtet. Allerdings liegen unterschiedliche Zahlen vor 45% (?) bzw. ein Drittel oder 20%31 der vermittelten Termine werden demnach nicht wahrgenommen.
Menschen mit psychischen Schwierigkeiten haben oft ein großes Bedürfnis nach menschlicher Nähe. Bei einem persönlichen, vertrauensvollen Vermittlungsgespräch kann eine Bindung entstehen. “Weiter geschickt” zu werden erlebt derjenige dann schnell vor allem als Ablehnung und Kränkung. Die Vermittlung kommt somit nicht zustande.

Ein telefonischer Kontakt mit wechselnden Vermittlern ist demgegenüber möglicherweise sinnvoller als direkte Beratungsgespräche zur Weiterleitung des  Hilfesuchenden. Die erwähnten Erfahrungen der Berliner TSS Leitstelle könnten das ebenfalls nahelegen. Erfahrungen der Telefonseelsorge und von Krisendiensten könnten zur Diskussion dieser Frage herangezogen werden. 32

Die fachkundigen Vermittler am Telefon müssen allerdings sehr gut geschult sein, um beispielsweise Suizidalität der Anrufer erkennen zu können. Sie sollten neben ihrer fachlichen Qualifikation regional verankert sein, die lokale Szene und Initiativen kennen und sich mit Psychiatrieerfahrenen vor Ort abstimmen. Sie sollten sich bei der Vermittlungsarbeit soviel Zeit nehmen können, wie sie brauchen.

5. Neue Enquête zur Lage der Psychiatrie im Internetzeitalter erforderlich.
Die hier skizzierten Themen  zur psychiatrischen Versorgung sind zu komplex, um sie mit einem Schnellschuss aus der Hüfte anzugehen, wie der neue Gesundheitsminister Jens Spahn es scheint’s versucht.
Dabei wird eine Unsicherheit auf dem Gebiet der Psychotherapie deutlich sichtbar, die in eine ehrliche Fachdiskussion münden könnte.
Die bereits vielfach erhobene Forderung nach einer neuen Enquête-Sachverständigenkommission, 40 Jahre nach der letzten großen Reform, könnte dadurch Unterstützung finden.
Vertreter der aktuell angebotenen Formen psychiatrischer Hilfen müssten sich zusammenraufen, um eine neue “Enquete zur Lage der Psychiatrie im Internetzeitalter” zu erarbeiten, deren Vorschläge unter Berücksichtigung der entsprechenden Chancen und Belastungen der Bürger dann Grundlage sein könnten für Pläne zur gesundheitlichen Versorgung und entsprechende gesetzliche Maßnahmen.
Diese Forderung wird besonders relevant im Zusammenhang mit einem zweiten Artikel von EREPRO. dabei geht es vor allem um Chancen und Gefahren der neuen Informationstechnik und der zentralen elekronischen Erfassung aller Patientenakten.

Um der Forderung mehr Gewicht zu verleihen sei noch einmal die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde zitiert:
“Damit eine verbindliche integrierte Versorgung zu spürbaren Verbesserungen für Menschen mit psychischen Erkrankungen führen kann, sollten auch Vergütungsanreize für die Koordination des Netzwerkes oder für das Ausüben einer Lotsenfunktion seitens der Kostenträger geschaffen werden – eine Forderung, die derzeit auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen vertritt.
Von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung von innovativen Versorgungsformen wird auch die wissenschaftlich fundierte Konzeptentwicklung, Erprobung, Implementierung und vor allem Evaluation im Rahmen der Versorgungsforschung sein. Zur Überwindung der Sektorengrenzen als auch der Partialinteressen von Leistungserbringern und Kostenträgern ist der Gesetzgeber gefordert, Anreize, aber auch Verpflichtungen für eine gestufte sektorenübergreifende Versorgung zu schaffen. Nur so wird diese einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Gesundheitssystems und zur Sicherung des Patientenwohls leisten können.”33

 

Es folgt hier in Kürze die Darstellung weiterer Teile des Entwurfs für ein Terminservice- und Versorgungsgesetz.

Anmerkungen

1.s. Kollegennetzwerk Psychotherapie, Freitags-Newsletter 19.10.18

2. Erste Diskussion des Gesetzes im Bundestag am 13.12.2018: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/terminservice-und-versorgungsgesetz.html
und
https://www.bundesrat.de/SharedDocs/TO/972/to-node.html dort PDF Dokument Nr. 504/1/18
und
https://www.aerztezeitung.de//politik_gesellschaft/berufspolitik/article/973991/standpunkt-vertrauensverlust-sorgt-miese-stimmung.html?ref=kasten_rechts

3. http://www.taz.de/!5566407/

4. zur Diskussion darüber
https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2018/_10/_25/Petition_85363.$$$.page.3.batchsize.10.html#pagerbottom

5. Man spekuliert über Jens Spahns Unwissenheit und Beeinflussung durch seine persönliche Bekanntschaft mit dem Psychiater Lütz, seine unsachgemäße Motivation – nur Ambitionen auf höhere Ämter etc.. s. “Kollegennetzwerk Psychotherapie”, Freitags Newsletter vom 19.10 18

6.https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/p/psychotherapeutische-sprechstunde.html

7.https://www.aerztezeitung.de//politik_gesellschaft/berufspolitik/article/973991/standpunkt-vertrauensverlust-sorgt-miese-stimmung.html?ref=kasten_rechts

8. http://www.freiheit-fuer-ein-prozent.de/

9.https://www.change.org/p/gesundheitsminister-jens-spahn-wir-werden-nichts-tun-herr-gesundheitsminister-spahn-d8262393-fb27-4686-9e8c-f276bc341943?recruiter=168108774&utm_source=share_petition&utm_medium=facebook&utm_campaign=share_petition&utm_content=fhtdec-13930369-de-de%3Av6&fbclid=IwAR1WawHtzlLnl2B6c9C_XOm_sfpyBUF-V-6aJcwhvjcJgMju0wp3YktQAwU

10. DGPPN  Standpunktepapier Web.pdf

11. Für die  vermittelnden Terminservicestellen soll gelten: Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit unter der einheitlichen Nummer 116 117. Man will Hilfesuchende dazu bringen, bei akuten Beschwerden erst einmal diese Nummer zu wählen, um dann an eine geöffnete Praxis oder einen ärztlichen Notdienst vermittelt zu werden und eben nicht gleich in die Notfallambulanz eines Krankenhauses zu gehen.

12.https://www.deutschlandfunk.de/terminservice-und-versorgungsgesetz-der-schwierige-weg-in.724.de.html?dram:article_id=438414

13. Kollegennetzwerk Psychotherapie Freitags-Newsletter 25.1.2018

14.https://www.dgvt.de/aktuelles/details/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=2446&cHash=72d5e7eb10439562968352e89712784e

15. DGPPN _ Standpunktepapier web.pdf

16. Für ländliche Regionen und für das Ruhrgebiet werden 1500 zusätzliche Therapieplätze gefordert.

17https://www.bptk.de/aktuell/einzelseite/artikel/kurzfristig.html

18. Freitags Newsletter vom 8.2.2019

19. https://www.dgvt.de/aktuelles/details/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=2446&cHash=72d5e7eb10439562968352e89712784e

20. Ein geflügeltes Wort sagt: Die Möglichkeit der freien Arztwahl ist heute längst nicht mehr gegeben, man könnte eher von einer “freien Patientenwahl” der Ärzte reden.

21.https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2018/_10/_25/Petition_85363/forum/Beitrag_614207.$$$.einsprung.614269.tab.2.batchsize.10.page.0.html?suchesubmit.x=20&suchesubmit.y=13

22. https://www.bptk.de/aktuell/einzelseite/artikel/erfolge-der.html

23. Psychotherapieformen, die derzeit auch von vielen privaten Versicherungen übernommen werden und in entsprechenden Richtlinien definierten Antragsverfahren unterliegen, werden “Richtlinien-Psychotherapie” genannt.

24.https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/99758/Psychotherapeutische-Sprechstunde-steuert-die-Versorgung
und
http://r.news.kollegennetzwerk.de/mk/cl/f/ga7qlYH6C92VmWCXl-vy3Dawd1u3Jj95RRyV4PYpKr2Y-e2gmJs1PnunbwQJUl879dQsZsLDSBqnq9dN1JxMYqOeQa0an23FBS14_oTGe9qmL667PM8ytAhKFC5c9fodrErNyIB9WkwNhlcGYO_jjyHXJCCmXgW3TQSr4TzPWjV152mbm6Df53aq0DIAHzBUBWE6LztgCurj8SBPGoUbvgyAYZi6ZSLHLvV4nVGC-_lMguYNzKX7kFuyJn52Nug0xCEkkFQaPAU_3gGO1FFsh_nD3avMMNuuAuBfRGSoRk_czBbZWg

25.https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/p/psychotherapeutische-sprechstunde.html

26. http://www.taz.de/!5566407/

27. In der eigenen Praxis, in den Terminservicestellen (TSS) und später durch Gutachter zur Finanzierung  der Therapiesitzungen – ein in der Regel zu sinnloser Routine erstarrtes Verfahren.

28. VPP1-12_Bergold_Jaeggi.pdf

29. https://www.svr-gesundheit.de/index.php?id=606

30. VPP4-13_Keupp_Kraiker.pdf

31. Terminservicestelle_Barjenbruch.pdf

32.https://scholar.google.de/scholar?q=Untersuchungen+%C3%BCber+Telefonseelsorge&hl=de&as_sdt=0&as_vis=1&oi=scholart

33. DGPPN _ Standpunktepapier web.pdf. Hier  werden viele Vorschläge zur Verbesserung der Versorgung diskutiert.

Warnung vor PatVerfü

Die Patientenverfügung PatVerfü entstand als Abwehrmöglichkeit für Zwangspsychiatrie zu Zeiten des Dramas um G. Mollath.
Sie wurde per Videoclips u.a. von Nina Hagen beworben. Auch EREPRO hat sich positiv darüber geäußert. Für besonders problematisch halten wir es, dass körperliche Implikationen der Verfügungen  nicht genügend bedacht wurden …

Die jetzt vom Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE) geäußerten Bedenken sind unbedingt zu beachten. Darum zitieren wir das gesamte Schreiben aus dem BPE Rundbrief 4/2018.
Wir begrüßen es, dass der BPE eine entsprechend verbesserte Patientenverfügung erarbeiten will.

“An die Mitglieder des BPE zur Information

Liebe Mitherausgeber der PatVerfü,

hiermit kündigt der Vorstand des BPE e.V. seine Patverfü-Mitherausgeberschaft mit sofortiger Wirkung. Wir halten diese Vorausverfügung nicht mit den existenziellen Interessen Psychiatriebetroffener vereinbar und bitten euch, unsere Organisation als Mitherausgeber auf allen digitalen und analogen Dokumenten zu streichen.
Gründe:
(1) Die Patverfü bietet Raum für zehn Personen, denen als Vorsorgebevollmächtigten für die Aufgabenbereiche Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitsfürsorge und Vermögenssorge Blankovollmachten erteilt werden sollen; Warnungen vor einem möglichen folgenschweren Missbrauch dieser aberwitzigen Blankovollmachten fehlen komplett.
(2) Die Patverfü kann die Unterzeichner mit der vorformulierten strikten Ablehnung jeglicher Behandlung in einer Ambulanz oder einem Krisendienst potenziell in Lebensgefahr bringen: wenn beispielsweise eine starke Blutung nicht mehr gestillt oder ein Herzstillstand nicht mehr behandelt werden darf, weil die Betroffenen im Zustand der Bewusstlosigkeit ihre Verfügung nicht mehr widerrufen können.
(3) Der Patverfü fehlt die Benennung eigener Erfahrungen, möglicher Krisensituationen und alternativer Lösungswege in psychosozialen Krisen, was aber auch heute noch (auf Grundlage des § 1901a BGB) als dringend erforderlich anzusehen ist, um die bei Ablehnung anstehender Verabreichungen von Psychopharmaka und Elektroschocks von Psychiatern immer wieder angezweifelte Selbstbestimmungsfähigkeit beim Abfassen der Patientenverfügung zu belegen und dem Einwand zu begegnen, man hätte sich keine ausreichenden Vorstellungen über eine zukünftige Krisenbewältigung gemacht.
Der BPE holt sich Rechtssicherheit ein und erstellt unter dieser Prämisse eine eigene geeignetere Patientenverfügung.
Wir bitten um Euer Verständnis.

Freundliche Grüße
Der Vorstand des BPE”

 

Ideenwettbewerb

Sie haben Ideen dazu,
welche Hilfen psychisch behinderte Menschen brauchen, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, wie sie sich aber auch vor Gefahr und Schäden, die diese Teilnahme mit sich bringt, schützen können? Dann beteiligen Sie sich an diesem Ideenwettbewerb.

“Die Behindertenkonvention der Vereinten Nationen (BRK) verpflichtet die Vertragsstaaten (wie die Bundesrepublik Deutschland) geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderung Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen.” (Art. 12/3)
Die BRK geht in erster Linie von körperlichen Behinderungen aus. Wir alle kennen die Hilfen, die für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen erkämpft wurden – wie die Blindenleitstreifen auf Bahnsteigen, Nachrichten im Fernsehen in Gebärdensprache für gehörlose Menschen und vieles andere. Welche Erleichterungen stehen nun aber entsprechend für psychisch behinderte Menschen zur Verfügung? Welche Hilfen brauchen sie? Gibt es Forderungen, die noch nicht realisiert sind? Oder sind Unterstützungsmaßnahmen für diesen beeinträchtigten Personenkreis bisher noch kaum erarbeitet worden?
Offensichtlich besteht Nachholbedarf.

Die Anregung zu diesem Ideenwettbewerb ergab sich aus der Lektüre eines Artikels von Gottfried Wörrishofer in den Sozialpsychiatrischen Informationen 3/2018. Wenn möglich, lesen Sie den Text. Er kann Sie einstimmen auf die Schwierigkeit dieser Thematik.

Der Personenkreis von Behinderten, von dem wir hier reden, ist allgemein wenig bekannt und in vielen Fällen schwerer erkennbar als im Fall körperlicher Beeinträchtigung.
Darum sollten wir uns die besondere Situation dieser Menschen mit ihren Schwierigkeiten bei der gesellschaftlichen Teilhabe deutlich vor Augen führen, um über die Möglichkeiten notwendiger Unterstützungen nachzudenken zu können.

Wörrishofer schildert die Menschen, um die es geht, in dem genannten Artikel folgendermaßen:
“Durch die Erkrankung selbst, deren Medikation oder durch beides stellen wir die Absenkung des gesamten Energielevels fest. Minderung von Belastbarkeit, Interesse, Durchhaltevermögen, Freude am Tun, Schwinden von Sinnerleben und geistig-seelischer Präsenz bündeln sich zu einer »Barriere«, die sich als ›schwankende Leistungsfähigkeit‹ zeigt.
Uns allen – wirklich allen Betroffenen – ist gemeinsam, dass die Existenz gründlich entgleiste, ein gewisser Ausschluss aus der Gesellschaft und die Verweigerung mitmenschlichen Respekts.”
An anderer Stelle heißt es, dass diese Menschen “darin behindert sind, ihr Verhalten, ihr gesamtes Gebaren halbwegs in Einklang mit den Erwartungen normaler Bürger zu bringen, ja, sich vielleicht nicht einmal dessen bewusst sind, Normalität zu verletzen.”
Der Autor fährt fort:
“Nach meiner Beobachtung – und persönlichen Erfahrung – ist die psychische Behinderung im Kern eine Barriere im Bezug zu Menschen…”
“Die Barriere bildet sich erst in der sozialen Welt, türmt sich auf im Zwischen – euch und mir (….) Damit es zur Barriere kommt, braucht es zuallererst die beiden Seiten, um sie hervorzubringen. Es “steckt bereits im Wort ›Begegnung‹ ein Gegen, das in unserem Fall ein Potenzial zu signifikanter Widrigkeit einschließt. (…) Betroffene spüren das Gegnerisch-Widrige anders als die anderen. (…) Wir stehen sozusagen fassungslos vor einer unbegreiflichen Wirkmächtigkeit, die nicht zu sehen, umso mehr aber zu spüren ist.” Er spricht auch von einer “extremen Menschenscheu”.
Schließlich äußert der Autor noch – nur in einer Anmerkung – eine Vermutung:
“Im wiederholten Durchdenken von ›Begegnung‹ stellt sich die Frage, ob die Wirkmächtigkeit der Barriere nicht in der Wirkmächtigkeit von Normalität beruht.”

Soweit die Darstellung einiger “Barrieren”, bei denen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen Unterstützung brauchen, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können bzw. – man muss es vielleicht bei dieser Zielgruppe besonders betonen – sich vor Gefahr und Schäden durch die Teilnahme am Leben der Allgemeinheit schützen zu können.

EREPRO ruft mit diesem Ideenwettbewerb zu Beiträgen auf darüber, welche Hilfen psychisch behinderte Menschen brauchen, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, und hofft, dass sich viele beteiligen. Daraus sollten klare, vermittelbare Forderungen an die Politik erarbeitet werden, die nicht nur den Charakter allgemeiner Appelle haben, sondern konkrete Maßnahmen betreffen, die konsequent erkämpft und durchgesetzt werden können.
Es ist den Versuch wert, jetzt den Kampf für offizielle Unterstützung bei der Überwindung von Barrieren für psychisch beeinträchtigte Menschen im gesellschaftlichen Leben zu führen, denn wir gehen möglicherweise Zeiten entgegen, die nicht besonders behindertenfreundlich sind.

Vorschläge und Diskussionsbeiträge (z.B. auch klärende Schilderungen der “Barrieren” und Stellungnahmen zu einzelnen Vorschlägen) können von EREPRO mit einem hilfe Heft Ihrer Wahl belohnt werden. Sie können Ihre Ideen in die Kommentarfunktion unter diesem Aufruf schreiben oder per E-Mail an erepro@gmx.net senden.
Deadline ist der 31.12.18, aber Anregungen sind natürlich immer sehr willkommen.

Die Vergessenen Teil II Psychiatrie: Maßregeln mit Maß??

Immerhin – man spricht über sie –  wenn auch in bescheidenem Rahmen und hauptsächlich unter Betroffenen: 15 Kommentare zu unserem Artikel “Die Vergessenen” vom 17.4.2018 über Menschen, die psychiatrischen Zwangsmaßnahmen bis hin zum Maßregelvollzug ausgeliefert sind,  – das ist Rekord! Und ein Leser hat uns in seinen Mail-Verteiler aufgenommen, sodass wir Zeugen der dortigen Debatte über das Thema wurden.  Zusätzlich berichten wir hier über weitere wichtige Neuigkeiten zum Thema.

1.  Zunächst stellen wir Übereinstimmung fest über großen Verbesserungsbedarf bei Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie und im Maßregelvollzug bei allen (sehr verschiedenen) gesellschaftlichen Gruppen, die damit zu tun haben. Das sind nicht nur Psychiatrieerfahrene und ihre Angehörigen, sondern auch Rechtsanwälte, Psychiatriegutachter, Psychiater, Medienvertreter und Politaktivisten  – bei allerdings sehr unterschiedlicher Ausdrucksweise: Die Rede ist von “qualvollen Unterwerfungsritualen”, “menschenunwürdigen Zuständen, die bekannt sind”, “folterähnlichen Zuständen”, “kriminellen Handlungen”, “Erfordernis absoluter Anpassung” im Maßregelvollzug. Entzug telefonischer Kontakte zur Familie, Verbot persönlicher Hygiene, Nichtbeachten des persönlichen Willens werden beklagt. Vieles werde unter den Teppich gekehrt.
Kooperation sowie Information seien unzureichend, Fragen werden nicht gestellt zum besseren Verständnis des Patienten, es gebe kaum Recherche in seinem Interesse, keine Diskussion über mögliche Missverständnisse bei der Einschätzung der Person, was absolut geboten wäre angesichts der gravierenden menschlichen Folgen einer Fehleinschätzung, die bis zur Zerstörung eines ganzen Lebens gehen können. (s.u.)

Die Verhältnismäßigkeit zwischen Straftat und Aufenthaltsdauer wird im Maßregelvollzug häufig nicht gewahrt – eine der  schwersten Menschenrechtsverletzungen.
Die in der Diskussion vielfach kritisierte Vitos Klinik, eine halb-private forensische Klinik in Haina und Gießen, musste nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 10.1.2013 seit 2013 dreißig Patienten entlassen, weil die Richter die Maßregeln wegen fehlender Verhältnismäßigkeit aufgehoben hatten.
Die bloße Möglichkeit zu­künftiger rechtswidriger Taten vermag die weitere Maßregelvollstreckung nicht zu rechtfertigen (BVerfG …). Bei der Frage, ob eine Unterbringung als lang an­dauernd anzusehen ist, ist die Dauer der Freiheitsentziehung mit den Anlasstaten und mit möglicherweise anderen im Falle einer Freilassung zu erwartenden Taten abzuwägen (BVerfG …)”,
so die Entscheidung des OLG Hamm 2013.
Konkret ging es dabei um diesen Patienten: Ein Mann aus der Gruppe der Sinti, wegen räuberischen Diebstahls, sexuellen Missbrauchs eines Kindes sowie versuchten sexuellen Missbrauchs eines Kindes verurteilt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren mit angeordneter Unterbringung gemäß Paragraph 63 StGB sei freizulassen wegen fehlender Verhältnismäßigkeit trotz Fortbestehens der Rückfallgefahr, wenn die Unterbringung im Maßregelvollzug bereits mehr als 24 Jahre andauere (hervorgehoben von EREPRO), und die verbleibende Rückfallgefahr durch Auflagen und Weisungen im Rahmen der Führungs- und Bewährungsaufsicht gemindert werden könne, so dass mit der Entlassung ein vertretbares Risiko eingegangen wird.1 Das ist für manche Bürger sicher harter Tobak.

Man bekommt den Eindruck, dass in der forensischen Psychiatrie Psychotherapie im engeren Sinne oder gar “Soteria” (Begleitung von Menschen in psychotischen Krisen mit möglichst geringer neuroleptischer Medikation)  Fremdworte sind. Es wird sogar beklagt, dass man gar nicht mit den straffällig gewordenen Patienten rede. Der Mensch werde “ignoriert hinter den Bezeichnungen”.

Ein Mitglied des Bundesverbandes der Psychiatrieerfahrenen berichtet in den Mails, dass  1.100 Psychiater mit staatlichem Gewaltmonopol  “beliehen” seien, und damit ohne richterliche Anordnung und Gerichtsentscheidung Zwang ausüben können. Das alarmierte uns:
So einfach ist es aber nicht! Wir stellten fest, dass infolge der Privatisierung psychiatrischer Kliniken bereits in verschiedenen Bundesländern Regelungen erlassen wurden, private Träger mit hoheitlichen Aufgaben psychiatrischer Kliniken zu beleihen. Verfassungsrechtlich ist das nicht unumstritten.
Das führt zu der Grundsatzfrage:
Sollten Psychiatrische Kliniken überhaupt privatisiert werden und Trägern mit Gewinnmaximierungsabsicht  überlassen werden? Die massive Kritik an der privaten Vitos Klinik in Haina und Gießen legt eine negative Antwort nahe. Denn welchen Stellenwert haben für diese Geschäftsleute humanitäre Werte?2

2.  Maßnahmen, welche die Missstände im Maßregelvollzug  korrigieren könnten.
Die begutachtenden Psychiater nehmen ihre enorme Macht  nicht immer verantwortungsbewusst wahr. Mehr Kontrolle der gutachterlichen Ergebnisse wird deshalb wie ein Mantra gefordert.

Die unzureichende Qualität der psychiatrischen Gutachten wird unter anderem auch auf persönliche Probleme der Psychiater zurückgeführt.
Interessant ist dazu eine SWR-Sendung vom 28.6.2018  “Planet Wissen” mit einem psychiatrischen Gutachter, Titel “Verrückte Gutachten, wenn Menschen entmündigt werden.” Kritische Aussagen auch hier. Von “Schlechtachten” ist die Rede als maßgeblicher Fehlerquelle, von eigentlich notwendigen “Befangenheitchecks” für  die begutachtenden Psychiater, die selten durchgeführt werden, aus Angst Aufträge zu verlieren. Eine Psychiaterin berichtet in der Sendung über die Auswahl der Gutachter je nach gewünschtem Ergebnis.3

Die Forderung nach obligaten Zweitgutachten, die gesetzlich vorgeschrieben werden könnten, würde wohl die Zustimmung (fast) aller am Maßregelvollzug beteiligter Gruppen finden. Das wirft jedoch Probleme der Finanzierung auf.

Könnte das Rückgängigmachen der Privatisierung psychiatrischer Kliniken  den Maßregelvollzug verbessern? Das war immer eine Forderung von EREPRO. Matthias Seibt von dem Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen (BPE) weist jedoch darauf hin, dass alle Ärzte und Psychiater gewinnorientiert arbeiten, nicht nur die in den privaten Kliniken des Maßregelvollzugs, dass es also keinen großen Unterschied mache zwischen privater und öfffentlicher Trägerschaft der Psychiatrie-Kliniken.4

1986 waren noch dezentralisierte forensische Übergangseinrichtungen in NRW vorgesehen zur Eingliederung der Patienten in ihr Lebensumfeld und in die Gemeinschaft nach Beendigung der Unterbringung.  Diese Planungen wurden ersatzlos gestrichen.5

Gesetzlich vorgeschriebene Besuchskommissionen sind Kontrollorgane, die Missstände aufdecken könnten. Sie tagen – so wird berichtet – oft seltener als  in dem gesetzlich vorgeschriebenen Rhythmus, der sowieso schon von vielen als nicht ausreichend angesehen wird. Patienten verzichten wohl häufig darauf, mit der Besuchskommission zu sprechen, aus Angst vor Repressalien wie der Aufhebung von sogenannten “Lockerungen”, wobei unklar ist, wieweit die Kommissionsmitglieder überhaupt den Kontakt zu den inhaftierten Patienten suchen. Es sei fraglich, “auf welcher Seite die stehen”.
Eine Leserin hat uns dazu ein aufschlussreiches Video geschickt: https://www.facebook.com/kleiner.onkel.73/videos/814197618621835/

Ein Leser mit eigener Psychiatrieerfahrung ist bereit, in einer Besuchskommission im Maßregelvollzug mitzuarbeiten, weiß aber nicht recht, wie er dabei vorgehen soll. Vorschläge dafür reichen von der Aufforderung erst einmal einen Verein zu gründen bis zum Hinweis, mit dem hessische Ministerium für Soziales  und Integration Kontakt aufzunehmen, von dem andere sagen, dass sie dieser Institution “völlig  machtlos gegenüberstehen”. Auch er hatte dort keinen Erfolg. Er schreibt, ein Mitglied einer Besuchskommission, antwortete – darauf angesprochen – lapidar “Wenden Sie sich an die Presse”.
Die Berichterstattung über den Maßregelvollzug in den Medien wurde übrigens eher positiv beurteilt.

Auch Verbandsvertreter von Psychiatrieerfahrenen nehmen an den Besuchskommissionen  teil, was von einem Mitglied des Verbandes (BPE)  für einen Fehler gehalten wird.
Man verfüge im BPE über “keine Mittel gegen das System vorzugehen”, und habe nur sehr bedingt Einblick in den Maßregelvollzug, sei darum für Gerichtspsychiatrie-Erfahrene nicht zuständig. Der Mann sieht die Menschenrechtsverletzungen dort durchaus, “dass es so etwas tatsächlich gibt und zwar legal abgesichert”, ohne dass er solidarisch der Ausgrenzung dieser Menschen entgegen wirken will.

Von dem “ extremistischen Berliner Verband der Psychiatrieerfahrenen” distanzieren sich übrigens diese hessischen PE , insbesondere wegen seiner “reißerischen Formulierungen”, die angeblich denen der Sekte Scientology ähneln.
Dazu muss man wissen, dass sich diese Sekte seit Jahrzehnten mit ihrer “Kommission für Verstöße gegen Menschenrechte in der Psychiatrie” engagiert, wobei es ihr wohl vorrangig um Mitgliederwerbung geht.

EREPRO lag also wahrscheinlich falsch mit der Annahme, der Verband der Psychiatrieerfahrenen könne die Interessen der vergessenen Menschen im Maßregelvollzug vertreten.

Unter dem Motto “Es gibt nichts Gutes, außer man tut es” fordert eine Diskussionsteilnehmerin uns Bürger auf, Patienten auf den geschlossenen Stationen psychiatrischer Kliniken zu besuchen und mit den zwangsbehandelten Menschen zu reden.
Das entspricht auch einem großen Anliegen von EREPRO. Erfahrungsberichte dazu finden Sie auf dieser Homepage, insbesondere von Angelika Kurella: https://www.erepro.de/2016/11/18/gespraech-ueber-gefesselte-auf-geschlossener-psychiatrischer-station/.
Diese Besuche – so die Hoffnung – könnten zu mehr Transparenz psychiatrischer Arbeit beitragen und mehr öffentliche Aufmerksamkeit  ermöglichen für die teilweise unmenschlichen Zustände dort.
Den Vergessenen im Maßregelvollzug hilft dieser Vorschlag allerdings wenig, da der Zugang für Besucher in forensischen Kliniken schwierig ist.

Wir möchten noch kurz auf einen aufschlussreichen Artikel in den Sozialpsychiatrischen Informationen 3/2018, S.37 hinweisen, von einem Vertreter des Bayerischen Angehörigenverbandes, Karl Heinz Möhrmann, der in einem Beitrag fragt, “Wer vertritt die Interessen zwangsuntergebrachter Menschen in der Psychiatrie?” Zu den traditionellen Möglichkeiten der Interessenvertretung, die auch in dem EREPRO Artikel erwähnt wurden (Patientenfürsprecher etc.), nimmt er kritisch Stellung, favorisiert jedoch eine Einrichtung wie die österreichische Patientenanwaltschaft, die bei allen (unfreiwilligen) Unterbringungen von Amts wegen aktiv wird, und vor allen Dingen unabhängig und weisungsungebunden ist. Denn Patienten im Krisenzustand sind kaum in der Lage, sich aktiv um Anfragen bei Rechtsanwälten zu kümmern oder Interessenvertreter zu beauftragen.
Auch wenn der deutsche Verfahrenspfleger, der von EREPRO empfohlen wurde, die größte Nähe zum österreichischen Patientenanwalt aufweise, sei sein Nutzen viel geringer. So werde er beispielsweise nicht bei einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung eingeschaltet.
Mörmann weist auch darauf hin, dass erst nach dem Fall Mollath in Nordrhein-Westfalen und Bayern durch die Einrichtung von Maßregelvollzugs-Beiräten und Fachaufsichtsbehörden oder Beschwerdestellen Ansprechpartner für die gegen ihren Willen untergebrachte Menschen und ihre Angehörigen geschaffen wurden.6
Für die öffentlich-rechtlich Zwangsuntergebrachten gebe es also jetzt eine Aufsichtsbehörde, während diese für die zivilrechtlich (durch rechtliche Betreuer) untergebrachten Menschen fehle.
Die Anregung des Autors, in dem neuen bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz Assistenzen für Menschen mit seelischen Behinderungen vergleichbar der österreichischen Patientenanwaltschaft einzuführen, sei auf Unverständnis und Desinteresse gestoßen unter Hinweis, dass hierfür der Bundesgesetzgeber zuständig sei.

Der Deutsche Ethikrat hörte am 24.2.2017 Sachverständige zum Thema “Zwang in der Psychiatrie” an. Es war die größte Anhörung, die der Ethikrat je durchgeführt hat.”7

Juristisch ist in den letzten Jahren einiges korrigiert und im Interesse der Patienten geregelt worden. Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Das Verfassungsgericht hat am 24.7.2018 geurteilt, dass eine Fixierung in Zukunft nicht ohne einen richterlichen Beschluss durchgeführt werden darf, wenn sie “absehbar nicht weniger als eine halbe Stunde dauert, (dann) reicht die Anordnung eines Arztes nicht aus.”8
Die Bundesländer müssen ihre Regelungen dementsprechend ändern. Das ist natürlich ein Riesenschritt in Richtung auf mehr Humanität in der Psychiatrie.
Wolfgang Janisch schreibt in der SZ vom 25.7.2018, es gehe darum, “dass der Rechtsstaat den Fuß in der Tür der geschlossenen Psychiatrie hat, in der – so heißt es im Urteil – Patienten ‘in eine Situation außerordentlicher Abhängigkeit’ versetzt seien. Grundrechte verdorren leicht in abgeschlossenen Welten”. “Durch überforderte Mitarbeiter, durch ‘nicht aufgabengerechte Personalausstattung’ oder schlicht durch Betriebsroutinen und ‘Eigeninteressen der Einrichtung’” (die Zitate im SZ-Zitat sind die Worte des Gerichts).
Ein Richtervorbehalt ist in der Psychiatrie nicht neu und kein Allheilmittel, aber – so Janisch – “dem Psychiatrie-Urteil merkt man das Bemühen der Richter an, diesen Richtervorbehalt zum effektiven Instrument zu  machen.”

Heribert Prantl legt in der Süddeutschen Zeitung vom 24.7.2018 nahe, dass sich mit dem neuen Urteil des Bundesverfassungsgerichtes die Situation für “Schutzbedürftige” sehr zum Besseren ändern werde.

Unter dem Titel “Kein starkes Urteil aus Karlsruhe” wird in überzeugender Argumentation die Enttäuschung des Verbandes der Psychiatrieerfahrenen (BPE) über das Verfassungsgerichtsurteil zur Fixierung dargelegt – von Gangolf Peitz (BPE-Newsletter 02.08.2018, www.bpe-online.de).
Vor allem, weil die Fixierung nicht als “Folter” klassifiziert wurde, sondern als eine legale Behandlungsmethode, die nur kontrollierter als bisher durchgeführt werden müsse.
Eine sehr konsequente, und damit notwendige menschenrechtliche Auffassung des BPE.

Es gibt ohnehin neben der Fixierung weitere Methoden, unbotmäßige Menschen mit Zwang (und ohne Richtervorbehalt) zu behandeln, wie Isolierung und Zwangsmedikation etc..

Wie viel Zwang im Umgang mit psychisch kranken Menschen angewendet wird und angewendet werden muss, hängt zum großen Teil von der Haltung und Einstellung der Mitarbeiter ab, von der Beziehung zu dem erregten Patienten, und dem bisherigen zwischenmenschlichen Umgang.
Das  könnten Gründe sein für die stark variierenden Prozentzahlen (von 1 – 12%) der zwangsbehandelten Klienten in den verschiedenen psychiatrischen Kliniken Deutschlands.9

Alle juristische Regelung nützt also wenig, wenn nicht eine “Kulturveränderung” eintritt, die “bei der Ausbildung von Ärzten und Pflegepersonal beginnen müsse”,  “um die ethische Urteilskraft zu schärfen, um ungerechtfertigte Zwangsmaßnahmen als solche zu identifizieren und möglichst zu vermeiden”, sagt der Theologe Bormann.10
EREPRO fügt dem hinzu, dass auch Richter, die über Zwangsmaßnahmen entscheiden, informiert und fortgebildet werden müssen über die wichtigsten, aber auch die unterschiedlichen Erkenntnisse der Psychiatrie zur Gefährlichkeit und Uneinsichtigkeit von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Auch dadurch kann die Macht von Psychiatern eingegrenzt werden.
Bei der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie, einem großen Fortbidlungsanbieter, fehlt es unserer Kenntnis nach bisher an Fortbildungsangeboten  für Richter.  Das Institut für forensische Psychiatrie der Charité in Berlin bietet Veranstaltungen zur psychiatrischen Fortbildung von Richtern an. Ebenso die Deutsche Richterakademie, wie “Psychiatrie und Strafrecht”. Inwieweit diese Angebote Richter in die Lage versetzen, mit der Kritik an Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie angemessen umzugehen, kann von hieraus nicht beurteilt werden.

Es muss dringend eine viel größere öffentliche Aufmerksamkeit auf die Tatsache von Menschenrechtsverletzungen in Psychiatrischen Kliniken und im Maßregelvollzug gelenkt werden, und die Zwangspsychiatrie aus dem Dunkel befreit werden, in dem Menschen vergessen werden.
Wir Deutsche schauen gerne auf andere Länder herab, in denen Menschenrechte verletzt werden und sprechen dort Ermahnungen aus:
Kehren wir aber auch vor unserer eigenen Tür! Dafür hat das Verfassungsgericht jetzt eine Voraussetzung geschaffen.
Ch. Kruse

 

Anmerkungen
1https://psychiatrietogo.de/2012/01/19/bundesverfassungsgericht-bestatigt-dass-private-trager-forensische-kliniken-betreiben-durfen/
https://openjur.de/u/600201.html
https://www.vitos-haina.de/nc/haina/service/aktuelles/article/vitos-klinik-fuer-forensische-psychiatrie-haina-entwichene-patienten-gefasst.htmlre.
Heinz Kammeier und Pollähne, Helmut, Maßregelvollzugsrecht, 2018,C 74-77
2 Sebastian Reinke, 2010, Privatisierung des Maßregelvollzugs nach Paragraphen 63, 64 StGB, Paragraph 7 JGG und der Aufgaben nach Paragraphen 81, 126a StPO : dargestellt am Beispiel des Brandenburger Modells.
https://books.google.de/books/about/Privatisierung_des_Ma%C3%9Fregelvollzugs_nac.html?id=XpuJYAX9HokC&printsec=frontcover&source=kp_read_button&redir_esc=y
Heinz Kammerer und Helmut Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 2018, C 74 – C77
3 www,planet-wissen.de/sendungen/sendung-entmuendigung-menschen-100.html
Mehr zum Thema bei EREPRO auf dieser Website “Wer darf begutachten?”
und  “Psychiatrische Gutachten unter zeifelhaften Umständen.”
4https://vielfalter.podspot.de/post/interview-mit-matthias-seibt-aus-der-sendung-vom-5-marz-2018/
5 Heinz Kammerer und Helmut Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 2018, C 74 – C77
6 s. Die Frage der Verhältnismäßigkeit,  Fachtagung in Irsee vom 10.12 2017.
Hier findet sich eine ausführliche Übersicht über die Novellierung des Paragraph 63 StGB.
7 www.ethikrat.org
8  Pressemitteilung des Verfassungssgerichtes zum Urteil über Fixierung  https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/bvg18-062.html;jsessionid=B3A69266EC15100F2356773C636D86D9.2_cid394
https://www.tagesschau.de/inland/psychiatrie-103.html
https://www.taz.de/Verfassungsgerichtsurteil-zu-Psychiatrie/!5523349/
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/96643/Bundesverfassungsgericht-erhoeht-Anforderungen-fuer-eine-Fixierung
9https://www.zwangspsychiatrie.de/2018/01/psychiatrische-fixierung-anhoerung-beim-bverf/
10https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/88839/Bundesverfassungsgericht-verhandelt-ueber-Freiheitsbeschraenkung-durch-Fixierung

Die folgenden drei Dateien wurden uns mit der Mail von J. Schön vom 3.1.2019 zugeschickt:

Die Vergessenen

Eine Leserin von “EREPRO NEWS” hat uns auf eine neue Ton-Bilder-Schau aufmerksam gemacht: “Pippi im Folterland. Über Zwang, Willkür und Isolation in der Zwangspsychiatrie.” Wir geben die Anregung weiter, da es unseres Wissens wenig entsprechendes, allgemein verständliches Informationsmaterial über Zwangspsychiatrie bzw. Maßregelvollzug gibt, und fügen einige Bemerkungen hinzu.
Zunächst ein kurzer Hinweis, was unter Maßregelvollzug zu verstehen ist. Es gibt in Deutschland zwei Möglichkeiten des Umgangs der Gerichte mit Straftaten: Strafe für Tatschuld einerseits, und andererseits Anordnung der Besserung und Sicherung für “schuldunfähige” Täter, die als “sucht- bzw. psychisch krank” diagnostiziert wurden.

In der Ankündigung der Ton-Bilder-Schau heißt es:
(Zitat) “240.000 Menschen werden jedes Jahr in Deutschland gegen ihren Willen psychiatrisch zwangsbehandelt. Solche Behandlungen haben es in sich. Es sind qualvolle Unterwerfungsrituale, bei denen die eine Seite alle Macht hat und die andere keine. Das geben die Chefs deutscher Kliniken selbst zu. Der Wille des Patienten würde gar nichts zählen, schrieb der Leiter einer forensischen Psychiatrie in einem Brief an die Vorsorgebevollmächtigte eines Gefangenen – und erteilte ihr Hausverbot. Auch andere Verbrechen geben die Täter*innen in Weiß offen zu: Wenn passende Medikamente fehlen, würden halt andere genommen. Die seien dann zwar nicht zugelassen, aber das mache nichts. Disziplinarmaßnahmen würden als Therapie verschleiert. 18 bis 25 Jahre kürzer würden Menschen leben, die über lange Zeit Psychopharmaka nehmen – in der Regel: nehmen müssen. Der Staat hat mit den geschlossenen Psychiatrien Räume geschaffen, in denen die Untergebrachten Freiwild sind. 359 Euro erhalten die Kliniken dafür pro Tag und Person. Die Klinikärzt*innen sitzen selbst vor Gericht und schreiben die Gutachten, die ihnen die Betten füllen. Über Fördervereine organisieren sie ein zusätzliches, undurchsichtiges Umfeld. Die Ton-Bilder-Schau des investigativen Journalisten Jörg Bergstedt gibt einen tiefen Blick hinter die Kulissen der Zwangspsychiatrie, dargestellt vor allem an Unterlagen, die aus den Psychiatrien selbst stammen. Den Abschluss bildet die Frage, wie eine Welt ohne Zwangsbehandlungen aussehen könnte – und was das alles mit Pippi Langstrumpf zu tun hat.
Die Ton-Bilder-Schau könnt Ihr gerne bei Euch zeigen – als Film oder Live mit Referent. Anfragen dazu sowie Korrekturen und Ergänzungen zur Ton-Bilder-Schau an saasen@projektwerkstatt.de.
Die Songs und Fernsehausschnitte dienen dem Beleg der Aussagen in der Ton-Bilder-Schau und zeigen, dass auch dort die Verbrechen der Psychiatrie ganz offen geschildert werden – auch von den Täter*innen.
Gewidmet der Kämpferin Eva Schwenk, die genau an dem Tag starb, als dieser Film fertig wurde. Sie hat, ausgebildet als Psychologin, stets ohne Karriere- und Geldinteressen für die Betroffenen gestritten – als Autorin (Fehldiagnose Rechtsstaat), Gegengutachterin, Besucherin und Unterstützerin in den Anstalten sowie auf viele andere Art und Weise.” (Ende des Zitats)

Mitarbeiter von EREPRO haben sich diese Ton-Bilder-Schau angesehen.1 Eine ganze Reihe von Aussagen finden sich auch auf der Homepage oder in den hilfe Blättern von EREPRO – ohne, dass wir uns alle Aussagen im einzelnen zu eigen machen.2
Wir sind also über die dargestellten Missstände in der Psychiatrie informiert, trotzdem war es schwer erträglich, damit so geballt konfrontiert zu werden. Mit Entsetzen hat EREPRO immer wieder über die Menschenrechtsverletzungen in der Zeit des Nationalsozialismus berichtet. Aber ist es nicht wichtiger, aktuelle skandalöse Verletzungen der Rechte von Menschen mit psychischen Problemen auch in unserer Zeit anzusprechen? Nämlich  dass sie – ausgelöst durch häufig dilettantische Gutachten von Psychiatern –  als “schuldunfähig” im Maßregelvollzug zwangsbehandelt werden. Dass sie dort verschwinden  und, wenn sie keine Angehörigen haben, die sich kümmern, nicht selten vergessen werden – auch von der Öffentlichkeit.3 Das verlangt die Beachtung und Verbreitung dieser Ton-Bilder-Schau.

Vielleicht wird in 70 Jahren4 –  also 2088 – wieder eine Ausstellung an einige dieser menschlichen Schicksale erinnern, sowie an die unseriösen, verhängnisvollen Gutachten und die entsprechenden Gerichtsbeschlüsse nebst darauf folgende jahrelange Zwangs-Klinikaufenthalte im Maßregelvollzug. Und die späteren Psychiater werden sich vielleicht dann auch wieder entschuldigen.

Auch wenn nicht alle Informationen in dieser Ton-Bilder-Schau unbedingt verallgemeinert werden können, so sind sie doch viel zu oft zutreffend.
In unserer eigenen psychiatrischen Arbeit in einem Sozialpsychiatrischen Dienst haben wir mehrere Beispiele erlebt von menschlichen Verhängnissen im Maßregelvollzug. Hilflos und ohnmächtig gegenüber den Entscheidungen der Gutachter und ihnen blind folgenden Gerichten blieb uns in keinem Fall anderes übrig als diese Menschen, die uns lange bekannt waren, regelmäßig in den meist weit entfernten Anstalten zu besuchen und mit ihnen zu diskutieren, sich in diesen Einrichtungen so angepasst wie möglich zu verhalten, um ihnen überhaupt irgendwann mal zu entrinnen. Und später – nach ihrer Entlassung – zu helfen, die Kontakte zu Selbsthilfegruppen in dem sozialpsychiatrischen Dienst und zu Freunden und Verwandten in ihrem Heimatort wieder herzustellen.

Der Versuch mit einem begutachtenden Psychiater, Klinikdirektor, der – im Gegensatz zu uns – einen straffällig gewordenen Klienten gar nicht kannte, um – nach Entbindung von der Schweigepflicht – über dessen “Ungefährlichkeit” ins Gespräch zu kommen, fand keinerlei Resonanz. Ernüchternd der Gedanke, dass der dabei bekannt gewordene jahrelange Kontakt  des Klienten mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst den Gutachter zu einer noch negativeren Prognose veranlasst haben könnte!!
“Kein Risiko eingehen” – diese Haltung bestimmte die gutachterlichen Aussagen.

Ängstlichkeit der Gutachter zwingt Menschen auf diese Weise jahrelang (u.U. auch lebenslang) ganz unabhängig von der Schwere seines Gesetzesverstoßes zu einem Leben hinter Mauern.

Die Situation im Maßregelvollzug ist für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, die Bagatellstraftaten begingen, oft derart unsäglich, dass darüber möglichst breit informiert werden muss – und sei es als Warnung vor den Gefahren in der Psychiatrie. Diese Ton-Bilder-Schau wurde dafür erarbeitet.
In einer etwas gekürzten Form ist sie durchaus für größere Schüler im Schulunterricht geeignet. Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung könnte eine ihrer Veranstaltungen In Berlin  damit bestreiten und bei der Verbreitung der Informationen helfen (gegebenenfalls auch mit Ergänzungen). In Volkshochschulen und Veranstaltungen vieler gesellschaftlicher Gruppen könnte die Schau präsentiert und diskutiert werden.

Aber was kann man noch tun, außer zu informieren?
Es gibt forensische Kliniken, die Patienten im Vorfeld (der Aufenthalt dort entspricht einer Untersuchungshaft)  noch einmal begutachten und untersuchen, um Fehleinweisungen zu verhindern.5 Ein Korrektiv für die Gutachten?

“Unterwerfungsrituale” hin oder her, dass in diesen Kliniken “eine Seite alle Macht hat und die andere keine”, ist unhaltbar. Darum die Frage: Wer vertritt die Interessen dieser fast vergessenen Personengruppe? Bei der Google-Suche kommt als Antwort: die Verbände der Psychiatrieerfahrenen. Sie empfehlen, in erster Linie  sich vor der Psychiatrie durch eine Patientenverfügung zu schützen6 und setzen sich für deren juristische Absicherung ein.
1.  Zur Vertretung der individueller Rechte einzelner Insassen gibt es für Beschwerden der Patienten z. T. Ombudsleute, die allerdings von den Klinikdirektoren berufen werden. Ebenso Patientenfürsprecher. Wie weit sind diese im Konfliktfall auf Seiten der Patienten? Achten sie beispielsweise auf die “rechtzeitige(n) vorherige(n) (vor der Unterbringung, EREPRO) Aushändigung des Gutachtens an den Betroffenen”?7

Wenn ein Patient keinen Rechtsanwalt hat, bzw. sich – wie die meisten – keinen leisten kann, wie sollen seine individuellen Rechte in diesem komplizierten rechtlich/psychiatrischen Bereich gewahrt bleiben? Auch die meisten gesetzlichen Betreuer mit den üblichen Aufgabenbereichen sind damit überfordert.
Es könnte einigem Unrecht vorbeugen, wenn jedem, der keinen eigenen Rechtsanwalt hat, tatsächlich ein (obligatorischer!) Verfahrenspfleger zugeordnet würde.7
2. Zur Verbesserung der Gesamtsituation ist mehr Transparenz im Maßregelvollzug die bescheidenste Minimalforderung. Das heißt die Anfertigung differenzierter Statistiken über die Belegung der Einrichtungen (was bisher nicht geschieht), und  effektive und häufigere als jährliche Kontrollen und Überprüfungen der Arbeit der Zwangspsychiatrie.8
Konkret brauchen wir Gesetze und Regelungen, welche  die Hilfe für die betroffenen Menschen in den Vordergrund stellen und nicht die sogenannte Gefahrenabwehr. “Bei Einführung des Gesetzes stand zunächst der Sicherungsgedanke ganz im  Vordergrund. Mit der Strafrechtsreform im Jahr 1975 gewann der Behandlungsgedanke an Bedeutung. Die Überschrift des entsprechenden Gesetzes-Absatzes wurde umgekehrt: Statt ‘Maßregeln der Sicherung und Besserung’ heißt es seitdem ‘Maßregeln der Besserung und Sicherung’ (Kammeier, 2002).”9 Ob das etwas gebracht hat?

Aus einem Spiegel Interview mit  den Gutachter Psychiater Kröber 2017:
“Spiegel: 2016 wurde der psychiatrische Maßregelvollzug gesetzlich reformiert. Was versprechen Sie sich davon? Kröber: Das hilft uns, Patienten früher zu entlassen. Bisher musste man beweisen, dass jemand ungefährlich ist, um ihn entlassen zu können. Heute muss man umgekehrt nach sechs Jahren Unterbringung darlegen, dass er wirklich wieder erhebliche Straftaten begehen wird, um ihn drinnen zu behalten. Nach zehn Jahren liegt die Hürde für eine Verlängerung der Unterbringung noch höher.”10

Datenschutz spielt eine immer größere Rolle und muss gesetzlich geregelt werden.10a

Um die Arbeit begutachtender Psychiater und der zuständigen Richter zu verbessern, und sie bei der Ausübung von Zwang gegenüber straffällig gewordenen Menschen mit psychosozialem Hilfebedarf besonders zu sensibilisieren, ist ihre Schulung in humanistischer Sozialpsychiatrie zu empfehlen – auch für den kompetenten Umgang mit ihrer eigenen verständlichen Angst.11
Bei der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP), die viel und gute Fortbildungsarbeit in diesem Bereich leistet, gibt es allerdings kein einschlägiges Angebot für Richter bzw. Juristen.

Die von EREPRO dokumentierte Anfertigung des UN-Staatenberichtes Deutschland fordert ebenfalls Abhilfe angesichts der Zwangspsychiatrie in Deutschland!12 Nur – wann werden dessen Änderungsvorschläge realisiert?

Wie kann die Durchsetzung der Rechte von psychisch behinderten Straftätern – auch im Sinne der UN- Behindertenrechtskonvention  – gegenüber der Zwangspsychiatrie an Fahrt aufnehmen? Wer setzt sich dafür mit Leidenschaft ein?13

Grundsätzliche Forderung bleibt
1. die Abschaffung des zweigliedrigen Umgangs mit Delikten, der Strafe für Tatschuld einerseits, und der “Besserung und Sicherung” für “schuldunfähige” Täter andererseits. Diese zweiteilige Regelung wurde im 19. Jahrhundert konzipiert und 1933 als Gesetz verabschiedet.14
2. Streichung des Paragraph 63 StGB15, der bald nach der Machtergreifung 1933 von den Nationalsozialisten eingeführt wurde.

Am 15. September 2015 hat sich das „Kartell gegen § 63“ gegründet.
Begründung der Abschaffungsforderung der Gruppe:
“Zwei Merkmale des Vollzugs des § 63 in der forensischen Psychiatrie:
– Willkürliche und regelmäßig längere Freiheitsberaubung als bei einem vergleichbaren Delikt im Regelvollzug
– Erzwungene Körperverletzung durch psychiatrische Zwangsbehandlung.
Der UN-Sonderberichterstatter über Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Juan Méndez, hat bereits seit 2013 einen ‘absolut ban’ jeder Zwangsbehandlung legitimierenden Gesetzgebung gefordert. Staatlicher Zwang zu erduldender Körperverletzung per Gesetz steht vor der Todesstrafe als schärfste Sanktion des Strafrechts.”16

Natürlich wird die psychische Verfassung und die psychosoziale Situation eines Straftäters immer in die Urteilsfindung des Richters einfließen, aber es muss eine Strafe verhängt, und nicht vom Richter wegen einer nebulösen “Schuldunfähigkeit” eine unklare sogenannte “Besserung” in einer unbestimmten Zeitspanne beschlossen werden, ganz abgesehen von einer prognostisch schwer feststellbaren späteren Gefährlichkeit.

Die Psychiatrie verfügt schon lange über sinnvollere und wirksamere  Methoden der Hilfe und Begleitung für Menschen mit psychischen Belastungen als die der Zwangsverwahrung und -therapie in stationären Maßregelvollzugseinrichtungen.
In einem Artikel der Sozialpsychiatrischen Umschau,17 einer ziemlich positiven Darstellung des Lebens im Maßregelvollzug, beschreibt ein ehemaliger Insasse, jetzt dort Peer-Therapeut, wie sinnvoll Anwendungen und Verfahren, die denen der Sozialpsychiatrie entsprechen, auch in der Forensik sein könnten.18
Ehrenamtliche Mitarbeiter, Laien mit Interesse an Psychiatrie werden seit vielen Jahren mit großem Erfolg in der Sozialpsychiatrie eingesetzt.19 Offensichtlich ab und zu auch in der stationären Forensik – und das geht sicher nicht nur mit ehemaligen Insassen.
Dieser Vorschlag mag manchen Insidern abwegig erscheinen, da der Bürger ihnen eher in Initiativen gegen den Standort von Kliniken des Maßregelvollzugs entgegen tritt denn als Helfer. Aber ein Einsatz ehrenamtlicher Bürger durch die Klinik könnte eventuell bei diesen Konflikten sogar eine Vermittlungsfunktion haben.
Da die Herkunftsorte der Patienten in der Regel weit entfernt von der Forensischen Klinik liegen, sind Besuche von Freunden und Bekannten erschwert, und Laienmitarbeiter  könnten neben Gesprächsmöglichkeiten auch einen indirekten “Kontakt zur Außenwelt” bieten. Auch bei der “Gefährdungsbewertung” der Patienten durch das multiprofessionelle Team könnte ihre Stimme gehört werden. Bei Gelegenheit sind sie vielleicht weniger betriebsblind.
Zunehmend werden an die forensischen Kliniken Institutsambulanzen angeschlossen für entlassene Patienten. Sinnvoller ist es allerdings, die Nachbetreuung im Heimatort der Strafentlassenen durchzuführen.

Wem die (zwar nicht unangemessen!) laute und angespannte Stimme  des Autors der Ton-Bilder-Schau etwas auf die Nerven geht, kann sich bei YouTube das Video einer öffentlichen Anhörung bei der Humanistischen Union Marburg zum Thema “Menschenrechtsverletzungen durch psychiatrische Gutachter?” anschauen. “Obwohl sie eine immense Wirkung für die Begutachteten haben,” so heißt es dort, “werden sie (die Gutachten, EREPRO) auf fragwürdige Weise erstellt und in problematischer Weise gewürdigt,” Die Diplom-Psychologin Eva Schwenk aus Mainz äußert sich mit sanfter Stimme über psychiatrische Gutachten aus Sicht der Psychologie. “Viele Gutachten werden ihrer Beobachtung zufolge den fachlichen Ansprüchen nicht gerecht, die die Zunft selbst an derartige Untersuchungen stellt.”20 Eva Schwenk hat sich mutig in diesem Bereich der Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie engagiert. Sie hat ein Buch darüber geschrieben.21

Schrecken und Fassungslosigkeit und – tatsächlich – leider auch der fast unabweisliche Wunsch nach Verdrängung dieser unmenschlichen Seiten der aktuellen Psychiatrie, bestimmen die Reaktion unserer sog. Zivilgesellschaft.22

Dass gerade die nach der Zwangsbehandlung entlassenen Menschen mit besonderen psychosozialen Belastungen die Unterstützung und Hilfe ihrer Mitmenschen dringend benötigen, um ein für sie lebenswertes und menschenwürdiges Leben führen zu können, spielt bei den Angeboten der heutigen Psychiatrie kaum eine Rolle.

 

Anmerkungen
1 Aufzeichnung am 2.3.2018 in Bremen (Veranstalter: StattPsychiatrie)
https://www.youtube.com/embed/pJXUbAWIAP0
saasen@projektwerkstatt.de
2
EREPRO: Stationärer Maßregelvollzug: anders ist besser!

11. September 2014 (Psychiatrieleben)
http://www.erepro.de/2014/09/11/stationarer-masregelvollzug-anders-ist-besser/
und
Psychiatrische Gutachten – unter dubiosen Umständen
18. August 2014 (Fachforum)
http://www.erepro.de/2014/08/18/psychiatrische-gutachten-unter-dubiosen-umstanden/
und
Abschaffung des Paragrafen 63 Strafgesetzbuch!
27. September 2015 (Gut zu wissen)
http://www.erepro.de/2015/09/27/abschaffung-des-paragrafen-63-strafgesetzbuch/
3 Zuletzt kurz in der letzten Folge der Serie Bella Block 24.3.2018 – der Fall Mollath ist schon fast vergessen. Die Künstlerin Nina Hagen engagiert sich auch gegen das Vergessen zwangsbehandelter Menschen in der Psychiatrie.
4 So lange dauerte es bis zur Anerkennung einer Schuld an den NS Verbrechen durch den Fachverband der Psychiater DGPPN mit Organisation einer Wanderausstellung darüber. Auch wenn 2018 nicht annähernd so viele Menschen durch diese psychiatrischen Zwangsmaßnahmen betroffen sind (zur genaueren Diskussion der Zahlen s. T. Henking, J.  Vollmann Hrsg., Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, DOI 10.1007/978-3-662-47042-8_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015), nämlich 240 000 (s.o.), mindert das die Unmenschlichkeit selbstverständlich nicht.
“Psychiater und die Vertreter ihrer Verbände haben in dieser Zeit (Nationalsozialismus, EREPRO) ihren ärztlichen Auftrag, die ihnen anvertrauten Menschen zu heilen und zu pflegen, vielfach missachtet und eigenständig umgedeutet.” Man wollte “sich zu der eigenen Vergangenheit (zu) bekennen und aus der Vergangenheit (zu) lernen.”
https://www.dgppn.de/schwerpunkte/psychiatrie-im-nationalsozialismus/rede-schneider.html/de/nav_main/erwachsene/institut___klinik_fuer_forensische_psychiatrie/institut___klinik_fuer_forensische_psychiatrie_1.html
5 wie im LVR-Klinikum Essen. http://www.klinikum-essen.lvr.de/de/nav_main/erwachsene
6 BPE, Psychiatrische Zwangsbehandlung abschaffen. http://www.bpe-online.de/
und

https://www.zwangspsychiatrie.de
s. Werner Fuß Zentrum Berlin und Ra Wähner, Solidaritätsfond
7http://www.bundesanzeiger-verlag.de/betreuung/wiki/Unterbringungsverfahren#Bestellung_eines_Verfahrenspflegers
8 s.T. Henking, J.  Vollmann Hrsg., Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, DOI 10.1007/978-3-662-47042-8_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
9 s. Die Geschichte des Maßregelvollzugs, PDF mwv-berlin.de>leseprobe_images
10 http://www.spiegel.de/spiegel/gerichtsgutachter-hans-ludwig-kroeber-im-interview-unglueck-liebe-rache-a-1144322.html
und

zur detaillierten Diskussion der Novellierung: Rechtsanwalt Dr. jur. habil. Helmut Pollähne, Nach der Reform des Unterbringungsrechts (§ 63 StGB) ist vor der Reform. Kriminalpolitische Zeitschrift 1/2016
https://kripoz.de/2016/06/10/nach-der-reform-des-unterbringungsrechts-%C2%A7-63-stgb-ist-vor-der-reform/
10a allerdings nicht so, wie in dem Entwurf für das neue bayerische Psychiatrie Gesetz, s. http://spon.de/afdap
11 Das im Entwurf vorliegende neue bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) gibt wenig Grund zur Hoffnung auf Verbesserung der Situation.

s. taz.die tageszeitung vom 16.04.2018: der tag 2, S.2.
12 http://www.erepro.de/2015/06/05/staatenberichtsprufung-deutschlands-zur-umsetzung-der-un-behindertenrechtskonvention-un-brk-durch-die-vereinten-nationen-abschliesende-bemerkungen/
und
http://www.erepro.de/2015/05/04/staatenprufung-deutschlands-durch-un-behindertenausschuss-hat-stattgefunden/
Zitate daraus: “Die Praxis von Zwangsunterbringung und -behandlung in der Psychiatrie wurde mehrfach angesprochen.” “Das System muss in allen Teilen praktisch befähigt werden, Zwang im Zusammenhang mit Unterbringung und Behandlung zu vermeiden.”
13 Folgende Gruppen veranstalteten am 17.4.2018 im Haus des CVJM München eine kritische Diskussion über das  neue bayerische Gesetz: Gesundheitsladen München e.V., Netzwerk Psychiatrie München e.V., Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ), Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW) Oberbayern. Können diese Organisationen noch mehr tun? Was ist geplant?
14 https://de.m.wikipedia.org/wiki/Ma%C3%9Fregelvollzug
15 Text des Paragrafen 63 StGB:
Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
16 http://www.erepro.de/2015/09/27/abschaffung-des-paragrafen-63-strafgesetzbuch/
und
https://psychiatrielager.blogspot.de/2016/07/kartell-gegen-63.html
17 Sozialpsychiatrischen Umschau17 2/2018 S. 15
18 »Für meine Genesung bin ich selbst verantwortlich, ich kann jedoch nicht alleine gesund werden«, Toon Walravens Weg zum Peer-Berater in der Forensik, Sozialpsychiatrische Umschau 2018, S.15.
19 s. hilfe Blätter von EREPRO Nr. 13 Brauchen wir noch Ehrenamtliche in der Sozialpsychiatrie?  https://www.erepro.de/hilfe-blatter-von-erepro/
20 https://hpd.de/artikel/12346
21 Eva Schwenk, Fehldiagnose Rechtsstaat: Die ungezählten Psychiatrieopfer, 2004.
22 Die ganz große Ausnahme: die Sängerin und Schauspielerin Nina Hagen! Sie ist Mitglied der “Irrenoffensive” und im Werner Fuss Zentrum Berlin. Sie hat sich wirklich aktiv für die Freilassung von Mollath und anderen aus dem Maßregelvollzug engagiert, und bei einem Film (“Geisteskrank? Ihre eigene Entscheidung”) mitgewirkt, der Psychiatriepatienten empfiehlt, eine Patientenverfügung anzufertigen. “Die schlaue Patientenverfügung”, www.patverfue.de.

Nach der Depression ist (wie) vor der Depression

Mit diesem geflügelten Wort versuchen Mitglieder einer Frauen-Selbsthilfegruppe für Depressionen andere zu trösten, die es wieder erwischt hat. Die doppelte Bedeutung dieses Satzes ist jeder Teilnehmerin klar: Einmal die Übliche, eine Depression kommt selten allein. In diesen Gruppen für Frauen mit schweren, klinischen Depressionen, mit häufigen Klinikaufenthalten (so ist die Gruppe besetzt worden) hat niemand nur einmal eine Depression gehabt.

Zweite und wichtigere Aussage dieses Satzes: wenn die Depression vorbei ist, geht es dem  depressiven Menschen so gut wie vorher. Das heißt die Krankheit hinterlässt keine dauerhaften Schädigungen. Von den schweren Beeinträchtigungen der Stimmung und der Kognition in der akuten Depression bleibt nichts zurück.
William Styron schreibt: “Falls eine Depression nie zu Ende ginge, dann wäre der Selbstmord wirklich das einzige Heilmittel. Aber man sollte nicht solch einen falschen (vielleicht zum Denken anregenden) Hinweis  anklingen lassen, nur um dann zu betonen, dass eine Depression die Seele nicht auslöscht. Männer und Frauen, die sich von der Krankheit erholt haben, – und sie sind zahllos – bezeugen was wahrscheinlich die einzige rettende gute Eigenschaft ist: sie ist überwindbar”1

Der Slogan “Nach der Depression ist wie vor der Depression” wird Gruppenmitgliedern zugerufen, die in schrecklichen Depressionen untergehen. Sie können das nicht  glauben in ihrem Zustand, aber – das versichern sie nach Abklingen der Depression – es ist doch hilfreich. Auch wenn diese minimale soziale Intervention durch andere Gruppenmitglieder in der Regel genervt und ärgerlich abgewehrt wird, tief innerlich spürt derjenige scheint’s doch eine Verbundenheit.
“Und da die Gruppentreffen regelmäßig zu einem festen Termin stattfinden, werden die Frauen leichter motiviert zu kommen, auch wenn es ihnen schlecht geht. Sie raffen sich schließlich doch auf, weil sie erwartet werden, und ein Teufelskreis der Depression ist durchbrochen.”2
Insofern können unserer Erfahrung nach die Mitglieder einer Selbsthilfegruppe für depressive Menschen in akuten Depressionen oft  hilfreicher sein als das Fachpersonal. Das gilt auch für die Situation nach Abklingen der Depression.

Phil Borges hat erst kürzlich – auf dem Kongress der DGVT3 2018 darauf hingewiesen, dass die Patienten mit psychischen Problemen “kommunikative Umgebungen” brauchen und darin eine soziale Position, die ihnen Anerkennung bringt. Nachdrücklich hob er “Zugehörigkeit” hervor, unerlässlich für ein “erfülltes Leben”. Nachweise liefert er in seinem Film “Crazywise” mit vorwiegend ethnopsychiatrischen Beispielen.4
Dazu kommt, dass wiederholte Depressionen in Selbsthilfegruppen weniger als “Rückfälle” betrachtet werden oder als persönliches Versagen, das nicht wieder vorkommen darf, sondern in der Gruppe als “normal” akzeptiert ist.5  Auch diesen Aspekt sieht Phil Borges als sehr heilsam an.

Was aber macht der Psychiater, der sich in seiner Sprechstunde verzweifelten, depressiven Menschen gegenüber sieht?
Er will und soll das Leiden abstellen. Er kann es nicht einfach akzeptieren, und sagen, “Warten wir mal ab, bis es Ihnen wieder besser geht, erst dann können wir darüber reden, dann können Sie ihre Problematik schildern” – was die sachlich angemessene Reaktion wäre angesichts einer akuten Unfähigkeit des Patienten, überhaupt Kontakt aufzunehmen.
Nein, der Psychiater versucht baldige Abhilfe zu schaffen durch Psychopharmaka.

4 Millionen Menschen nehmen in Deutschland Antidepressiva.

Wobei man wissen muss, die Depression gibt es nicht, viele unterschiedliche Zustände werden so bezeichnet.6 Die schlimmste Form der Depression, die “klinische“ beschreibt der  Schriftsteller William Styron in seinem Buch “Sturz in die Nacht” als “unglaubliche Folter”. Ein Buch, das tief beeindruckt. Es vermittelt großen Respekt vor dem Leiden der Menschen, die von solchen Depressionen betroffen sind.7
Die Situation eines jeden Patienten muss daher genau betrachtet werden. Gedankenlose Praxis-Routine mit wenigen Gesprächsminuten reicht nicht aus. Dabei können weder Psychopharmaka noch therapeutische Gespräche einfach gedankenlos bei “Depressionen” eingesetzt werden.
Die Verschreibung von Antidepressiva verschafft wohl häufig  in erster Linie den Fachleuten Erleichterung, die Probleme haben das “Schicksal”8 des Patienten zu akzeptieren, immer verbunden mit der Angst vor einem drohenden Suizid.
Mit dem Argument, dass Antidepressiva Menschen mit unerträglichen Depressionen vielleicht doch entlasten könnten, wird die Kritik an ihrer Verordnung oft ausgehebelt.

Hier einige kritische Informationen über Antidepressiva.
Das Internetportal “Depression heute” schreibt:
“Im Jahr 2018 kann keiner mehr behaupten, er habe von nichts gewusst. Es ist mittlerweile bekannt:
x Die Biochemie der Depression ist unbekannt.
x Es sind keine Gehirnstoffe bekannt, die sich bei einer Depression in eine bestimmte Richtung verändern.
x Es gibt keinen biologischen Marker, der sich bei einer Besserung oder einer Verschlimmerung einer Depression ändert.
x Es gibt keine biologische Psychiatrie für Depressionspatienten.”9

Wer sich auf die Suche nach einigermaßen verlässlichem Wissen über Antidepressiva  begibt, trifft auf widersprüchliche Informationen.
Diese Unsicherheit steht in krassem Gegensatz zu der Situation in der psychiatrischen Praxis. Hier werden mit großer Selbstverständlichkeit Mengen dieser Psychopharmaka verschrieben, unreflektiert und mit einem impliziten Wirksamkeits-Versprechen verbunden, denn detaillierte medizinische Aufklärung der Patienten  von Seiten der verschreibenden Psychiater fehlt in der Regel. Das können sie vielleicht auch nicht leisten angesichts der widersprüchlichen Informationslage. Zweifel zu säen werden sie in der Praxis zudem für kontraproduktiv halten, da der heilsame Einfluss von Placebos nachgewiesen ist, und Antidepressiva im Zweifel wenigstens dementsprechend wirken.

Aber bei allem (notwendigen) Vertrauen zum eigenen Arzt besteht vermutlich bei vielen Patienten ohnehin ein Verdacht, mit Psychopharmaka betreibe die Pharmaindustrie in erster Linie Gewinnmaximierung, denn wie stark deren Lobby ist, weiß unterdessen jeder. Der irische Psychiater David Healy, der als Gutachter Zugang zu den Studienunterlagen der Pharmakonzerne hatte, berichtet über gezielte Ergebnisfälschungen der Konzerne.10

Schon zu Beginn der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts haben einige Autoren vor Antidepressiva gewarnt wie Marc Rufer11  und Josef Zehetbauer12.
Und die Zahl der kritischen Stimmen nimmt zu.
Vor kurzem hat Peter Grötsche, Direktor des Nordic Cochrane Centers in Kopenhagen eine systematische Sichtung von Versuchen mit psychiatrischen Medikamenten vorgenommen und unter dem Titel “It’s Unlikely That ‘Antidepressants’ Have a True Effect on Depression.” darüber berichtet. Er diskutiert in dem Aufsatz verschiedene wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse und kommt zu dem Schluß, “that depression pills have no true effect on depression. What is being measured in most trials is likely bias.”13
In seinem Buch “Tödliche Psychopharmaka und organisiertes Leugnen”14 hat Grötsche sich ebenfalls diesem Thema gewidmet.15

Auch in der Presse mehren sich die kritischen Berichte.
In einem Artikel in der Tageszeitung TAZ vom 29.2.2008 heißt es unter Rückgriff auf eine britische Studie “Antidepressiva meist wirkungslos”. Am 9.2.2013 folgte in dieser Tageszeitung “Pillen, an die man glauben soll”. 2017 erschien dort ein Artikel über die Wirkung von Antidepressiva mit dem Titel “Wenn die Welt verschwindet. Die Verordnungszahlen von Antidepressiva steigen. Scheinmedikamente wirken oft genauso gut. Besonders umstritten sind Langzeitbehandlungen.”
Der Berliner Tagesspiegel beteiligt sich ebenfalls am 5.12.2017 an der Aufklärung über Antidepressiva-Behandlung mit dem Beitrag “Mehr Präzision für die kranke Psyche”. Nachdem das Wissen unzureichend sei, auf welchen Wegen Psychosen oder Depressionen entstehen, so wird dort Peter Falkai, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in München, zitiert, sei es immerhin eine gute Nachricht, dass nur “ein Drittel der schweren und mittelgradigen Verlaufsformen schlecht oder gar nicht auf die gängigen Therapieansätze anspringen”.16 Sigfried Throm meine – so heißt es in diesem Artikel weiter, die Diagnose einer psychischen Erkrankung beruhe meist auf subjektiven EInschätzungen. Und wenn eine Krankheit schlecht definiert sei, lasse sich die Wirksamkeit neuer Medikamente statistisch nicht erkennen, weil die Patienten in einer Studie nur scheinbar an der gleichen Krankheit leiden. Das habe zur Unlust der Pharmafirmen beigetragen, weiter auf dem Gebiet der Psychiatrie in Arzneimittelforschung zu investieren .17
Der Spiegel  fragte am 22.2.2018 “Wie wirksam sind Antidepressiva?”18

“Depression heute”:
“Im Gegensatz zu Insulin, das nur bei Diabetes verwendet wird, werden Antidepressiva nicht nur gegen Depressionen eingesetzt, sondern auch gegen eine Vielzahl anderer Erkrankungen. Männer: Vorzeitige Ejakulation, Frauen: Prämenstruelles Syndrom. Männer und Frauen: Angststörungen, Zwangsstörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, … Es fällt schwer angesichts dieser Bandbreite an eine spezifische Wirkung zu glauben.”19

Bei Einnahme von Antidepressiva trifft unser Titel “Nach der Depression ist wie vor der Depression” eigentlich nicht mehr zu. Die Nebenwirkungen der Antidepressiva, die in der Regel auch nach Abklingen der Depression eingenommen werden sollen, können das Wohlbefinden auch nach der Depression stark beeinträchtigen – bis hin zu körperlichen Schäden. Insbesondere muss neben einer Abhängigkeit von diesen Psychopharmaka mit einer stark erhöhten Suizidgefahr gerechnet werden.20

Zusammenfassend hier noch einmal 14 gängige Irrtümer über Antidepressiva, die auf der Seite “Depression heute” jeweils ausführlich begründet werden21:

  • Antidepressiva beseitigen ein biochemisches Ungleichgewicht – falsch
  • Antidepressiva machen nicht abhängig – falsch
  • Antidepressiva wirken am besten in Kombination mit Psychotherapie – falsch
  • Antidepressiva senken das Suizidrisiko – falsch
  • Antidepressiva haben kaum Nebenwirkungen – falsch
  • Antidepressiva verändern die Persönlichkeit nicht –falsch
  • Eine medikamentöse Dauertherapie schützt vor Rückfällen – falsch
  • Antidepressiva wirken gegen Depressionen – falsch
  • Die richtige Diagnose für das richtige Antidepressivum –falsch
  • Die Diagnose Depression basiert auf Wissenschaft – falsch
  • Antidepressiva erhalten die Arbeitsfähigkeit – falsch
  • Depressionen sind kategorisierbar – falsch
  • Studien beweisen die Wirksamkeit von Antidepressiva – falsch
  • Mehr Serotonin beendet eine Depression – falsch

Die EInnahme von Antidepressiva ist demnach für viele depressive Menschen keine Option.

EREPRO plädiert für die Einrichtung von Selbsthilfegruppen für depressive Menschen. Derartige Angebote sind hilfreicher als Antidepressiva speziell für solche Menschen, die – anders als William Styron – sozial isoliert sind und sich gesellschaftlich in einer gewissen Außenseiter-Position befinden.23
“‘Gemeinschaft ist in einer individualisierten Gesellschaft ein rares Gut und es wird immer mehr zur Aufgabe des Einzelnen sich seine Gemeinde’ zu schaffen. Hier ergeben sich für die  Gemeinde-Psychiatrie spezielle Aufgaben der Netzwerkförderung und der Förderung der Netzwerkbildung bei einzelnen’, sagt Heiner Keupp, (…)
Zugehörigkeit, Orientierung und Verantwortlichkeit können in diesen Gruppen wieder erlebt werden. (…) Gerade bei psychisch Kranken wird ein Zusammengehörigkeitsgefühl auf die Dauer zur seelischen Gesundheit und größerer Zufriedenheit beitragen. (…)
Ihre Wirkung geht viel weiter, indem sie als mikrosoziale Supportsysteme Angst, Depressivität und Suizidalität reduzieren, Freundschaft und Engagement vermitteln und hilfeabhängigen und verzweifelten Psychiatriepatienten die Gelegenheit bieten, wieder zu verantwortlichen Bürgern zu werden, die mit aktiven eigenen Bewältigungsstrategien dazu beitragen unser Gesundheitssystem – in dem Fall die psychiatrischen Kliniken, die Heime  und das Betreuungswesen – zu entlasten”.24

Unzählige Male praktiziert, haben sich diese Aussagen über Depressionsgruppen in der psychiatrischen Praxis bestätigt. Auch die Erfahrungen in dem Sozialistischen Patientenkollektiv, Heidelberg, liefern  Belege dafür.22
Beschreibungen der praktische Durchführung und Organisation von Selbsthilfegruppen für depressive Menschen – beispielsweise werden die Teilnehmer dort vom Fachpersonal gezielt zusammengestellt zu homogenen Gruppen hinsichtlich Alter, sozioökonomischem Status, Bildung und Interessen – liegen aus einem bayerischen Sozialpsychiatrischen Dienst vor, der jahrelang verschiedene Depressionsgruppen durchgeführt hat.
Der Aufbau solcher Angebote bedarf einer gründlichen Projektplanung. Man muss einige Mühe und Geduld aufbringen bis sie sich etabliert haben.25
Aber es lohnt sich.

Zum Abschluß zwei Berichte von Teilnehmerinnen solcher Depressionsgruppen:
1, “Wir, die an Depressionen leiden, gehen in die Selbsthilfegruppe, um eine Verbesserung unserer Krankheit zu erzielen und wollen alle Möglichkeiten nutzen.
In der Gruppe treffen sich Gleichgesinnte, die sich austauschen können, weil man dort die Möglichkeit hat, sich nicht krank, sondern ganz normal zu fühlen. Hier können wir von unserer Überforderung berichten, von Dingen berichten, die uns noch nicht gelingen, und vieles andere, was uns den Alltag so schwer macht. Hier erhalten wir Anregungen, können von den Erfahrungen der anderen profitieren und mehr eigenen Antrieb für uns selbst erlangen. Man lernt mit kleinen Schritten Erfolge, positive Erfahrungen wertzuschätzen.
Das Verhältnis der Gruppenmitglieder festigt sich untereinander mit der Zeit, sodass immer bei Notfällen oder Problemen zu jeder Zeit irgendjemand telefonisch erreichbar und hilfsbereit ist, natürlich im Rahmen unserer Möglichkeiten. Gemeinsame Unternehmungen in der Freizeit helfen uns dabei, Sicherheit und Selbstvertrauen zu verbessern. Das Vertrauensverhältnis der Gruppenmitglieder untereinander entwickelt sich immer stärker, so dass es uns hilft, dass wir uns öffnen.
Die Hilfe von Ärzten und Therapeuten alleine reicht nicht, um den Alltag zu bewältigen. Aus diesem Grund brauchen wir die Selbsthilfegruppe, um mit unserer Krankheit leben zu können.(Erarbeitet von der Selbsthilfegruppe für depressive Frauen in Gersthofen, 2004)”

2. “Durch die Begegnungen in der Frauengruppe (für Depressive, d.Red.) fand ich wieder das lang entbehrte Gefühl ‘gemocht zu sein’. Eine ganz kleine Begebenheit kann das vielleicht erklären: Vor Kurzem hatte ich in der Bauernstrasse (im SPDI, d.Red.) einen Termin, er war wahrgenommen und ich am Verabschieden. Im Flur traf ich auf eine Frau aus der Gruppe, die sich zu einer Zusammenkunft eingefunden hatte, zu der ich auch hätte bleiben können – sollen.
Die spontane, echte Herzlichkeit, mit der sie mich bat: ‘…ach, bleib doch auch da, wenn du schon mal hier bist…’ ging mir an den Nerv. Am liebsten wäre ich ihr um den Hals gefallen.
Die allgemein üblichen Einladungen haben meistens so eine Art Berechnung. Die macht dieses Empfinden – ‘sei da, bleib in meiner Nähe, du bist mir notwendig’, unmöglich.
In der Gruppe ist das anders. Da weiß jeder von jedem: der macht sich nichts vor, die bekennen sich alle zu ihrer Not. Sie sind bereit, durch Austausch des Erfahrenen einander beizustehen – und dann – das mitgeteilte Leid wiegt nur noch halb so schwer. Bei der Freude ist es umgekehrt; ich las es erst unlängst wieder…Freue Dich mit mir, es ist so traurig sich allein zu freuen.
(Aus: Alle in einem Boot 1979, S. 9” – Zeitschrift der Klienten des Sozialpsychiatrischen Dienstes)

 

Anmerkungen
1  Übersetzung von EREPRO (T. Wolff). “If depression had no termination, then suicide would, indeed, be the only remedy. But one need not sound the false or inspirational note to stress the truth that depression is not the souls annihilation; men and women who have recovered from the disease  – and they are countless – bear witness to what is probably it’s only saving grace: it is conquerable.” William Styron, Depression,Vintage MInis, 2017. S. 78, Extracts from William Styron, Darkness visible, 1990. englisch, deutsch, Sturz in die Nacht, Die Geschichte einer Depression, 1991
2 hilfe Blätter von EREPRO Nr. 11. Sozialpsychiatrische Dienste, ein Luxus für reiche Zeiten? Zugehörigkeit, Orientierung, Verantwortlichkeit. 2004, S. 7
3 DGVT Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie
4 s. auf YouTube: “CRAZYWISE: A Traditional Approach to Mental Illness | Phil Borges | TEDxSanJuanIsland”
5  s. hilfe Blätter von EREPRO Nr. 11. Sozialpsychiatrische Dienste, ein Luxus für reiche Zeiten? Zugehörigkeit, Orientierung, Verantwortlichkeit. 2004, S. 7, 63 etc.
6 Statistische Aussagen über die Zahl depressiver Menschen sind  nicht sehr aufschlussreich, weil sie diese gravierenden Unterschiede in der Art der Störung nicht deutlich machen (können).
7 William Styron, Darkness visible, 1990. englisch, deutsch, Sturz in die Nacht, Die Geschichte einer Depression, 1991
s. auch ein Interview mit Styron über seine Depressionen auf YouTube (auf englisch)
8 s. hilfe Blätter von EREPRO Nr. 16, 2017, Grenze unserer Menschlichkeit. Wie gefährlich sind Gekränkte? S. 17 über “Schicksalslosigkeit”.
9 https://www.depression-heute.de/blog/journalistische-desinformationen-ueber-depressionen
10 Statt Antidepressiva schlägt Healy allerdings Elektrokrampftherapie für schwere Depressionen vor. Dieses Verfahren, das einen künstlichen epileptischen Anfall auslöst, hat umstrittene Nebenwirkungen und wird von vielen Betroffenen und Fachleuten abgelehnt.
https://www.depression-heute.de/blog/david-healy
11 s. Marc Rufer, Irrsinn Psychiatrie, 1988
12 Zehetbauer, J. Chemie für die Seele, 1991
und
hilfe Blätter von EREPRO, Mai/Juni 1997, “Zu Risiko und Nebenwirkungen fragen Sie lieber nicht Ihren Psychiater.”
13 https://www.madinamerica.com/2018/01/antidepressants-effect-depression/
Götsche berichtet hier über einen exemplarischen Versuch der Art, der im November 2017 in JAMA veröffentlicht wurde (Rosenbaum JF, Fava M, Hoog SL, et al. Selective serotonin reuptake inhibitor discontinuation syndrome: a randomised clinical trial. Biol Psychiatry 1998;44:77-87. Angabe nach Grötsche): “It studied 201 patients with chronic kidney disease and depression for 12 weeks. Sertraline had no effect. The QIDS-C16 score changed by −4.1 in the sertraline group and by −4.2 in the placebo group; between-group difference, 0.1 (95% confidence interval −1.1 to 1.3; P = 0.82). The authors reported that a difference of 2 points on the QIDS-C16 is equivalent to a difference of 3 points on the Hamilton Rating Scale. The least clinically relevant effect on the Hamilton scale is 5-6.”  Die Autoren dieser Studie führen dieses Ergebnis auf die niedrige Dosierung der Antidepressiva und die chronische Krankheit zurück, was G. begründet bezweifelt.
14 Grötsche, Peter, Tödliche Psychopharmaka und organisiertes Leugnen, 2016
Interessant ist die Diskussion über eine Rezension dieses Buches bei Amazon, in der sich ebenfalls die gängigem Kontroversen über Antidepressiva zeigen: https://www.amazon.de/T%C3%B6dliche-Psychopharmaka-organisiertes-Leugnen-Pharmaindustrie/product-reviews/3868837566/ref=cm_cr_dp_d_hist_3?ie=UTF8&filterByStar=three_star&reviewerType=all_reviews#reviews-filter-bar
15 Grötsche legt seinen Lesern als einziges deutschsprachiges Internetportal das oben zitierte “Depression heute” ans Herz.
https://www.depression-heute.de/blog/peter-gotzsche-empfiehlt-depression-heute
16  “Depression heute” schreibt dagegen: “Nur ein Drittel der Patienten profitiert von der antidepressiven Medikation. Genauso hoch fällt die Besserungsrate bei placebo-behandelten Patienten aus.”
17 “Seit 2010 sind in Deutschland keine wirklich neuen Mittel mehr auf den Markt gekommen. Und nur in sieben klinischen Projekten werden derzeit Wirkstoffe gegen Depressionen getestet- dagegen laufen 237 solcher Studien in der Krebsmedizin.”
https://www.pressreader.com/germany/der-tagesspiegel/20171205/281968903015878
18 http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/antidepressiva-wie-gut-wirken-medikamente-gegen-depression-a-1194880.html
19 https://www.depression-heute.de/falschaussagen/antidepressiva-wirken-gegen-depressionen
20 https://www.depression-heute.de/falschaussagen/antidepressiva-haben-kaum-nebenwirkungen
21 https://www.depression-heute.de/falschaussagen/falsche-behauptungen
22 s. Der Film “Der SPK Komplex”, insbesondere die Diskussion mit den Protagonisten nach der Premiere bei der Berlinale 2018
https://www.berlinale.de/de/programm/berlinale_programm/datenblatt.php?film_id=201813089#tab=filmStills
Mitglieder des heutigen SPK/PF haben den Regisseur Gerd Kroske allerdings die Verwendung jeglicher SPK Dokumente verboten. http://spkpfh.de/Achtung_Gattungsgifter_am_Werk.htm
Informationen über die positiven Wirkungen der Gruppenzugehörigkeit beim SPK finden sich auch in dem Buch von Ch. Pross, Wir wollten ins Verderben rennen, 2016. S. 203 ff – auch wenn dieser Aspekt leider weder im FIlm noch im Buch über das SPK im Mittelpunkt steht.
23 Das trifft besonders auf Frauen zu – auch auf die vielen nicht berufstätigen Hausfrauen mit erwachsenen Kindern, die allein – mit oder ohne Ehemann – leben.
24  hilfe Blätter von EREPRO Nr. 11. Sozialpsychiatrische DIenste, ein Luxus für reiche Zeiten? Zugehörigkeit, Orientierung, Verantwortlichkeit. 2004, S. 8
25 s. hilfe Blätter von EREPRO, Nr. 12, 2007 Selbsthilfe und Selbständigkeit, Bitte nicht helfen, ich kann das selbst. S.21: Organisation von Selbsthilfegruppen in SPDis. etc.

Empathie und Mitleid -JA- aber auch für das Pflegepersonal in der NS-“Euthanasie”?

Vor kurzem brachte “Spiegel online” eine Kolumne “Faulheit der Herzen” von Georg Diez.1 “Gesellschaftlicher Opportunismus” nennt es dieser Autor, wenn man heute nicht klar zu den Überlegungen steht, welche “die moralischen Grundlagen dafür schaffen, dass die Menschen miteinander in Gerechtigkeit leben und verstehen, dass Solidarität zum Kern dessen gehört, was uns zu Menschen macht, dass Hilfe, Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit nichts ist, was man sich leisten kann oder nicht leisten kann, sondern der Ausgangspunkt für alles Zusammenleben.”.
Überrascht liest man bei Diez ein Zitat von Adam Smith2: “Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. Ein Prinzip dieser Art ist das Erbarmen oder das Mitleid, das Gefühl, das wir für das Elend anderer empfinden, sobald wir dieses entweder selbst sehen, oder sobald es uns so lebhaft geschildert wird, dass wir es nachfühlen können.”

EREPRO plädierte im letzten hilfe– Heft ebenfalls für Mitleiden und Menschlichkeit, stellte aber fest: “Und doch – mit einem EInsatz für die Liebe, die Hilfe und Vernunft, von Recht und für Gerechtigkeit statt Kampf gegeneinander sowie Konkurrenz kann man sich heute wenig Lorbeeren verdienen.”3
Auch Diez spricht von einem “seit Jahren andauernden moralfeindlichen deutschen Diskurs, mit dem – speziell in der Frage des Umgangs mit Geflüchteten, aber auch darüber hinaus – eine Gesellschaft der Kälte institutionalisiert werden soll, durch eine Stigmatisierung von Positionen, die Menschlichkeit in den Mittelpunkt stellen wollen.” Dazu EREPRO: “Mit kaltem Denken wähnt man sich besonders realistisch. Man meint, auf diese Art Gefahren zeitig zu bannen, und trotzt so seiner Angst. Oft ohne sie als solche zu erkennen. Auffällig ist, dass diesen Menschen nicht selten Gelassenheit und Abstand fehlen. Sie wirken immer angespannt und gar nicht flexibel. Sie neigen zu Voraussagen von Schrecklichem –
scheinbar ermächtigt und befähigt durch einen unbeteiligt kalten Blick auf alles – ohne ein eigenes Gefühl.”4
Sogar die unmenschlichen Nationalsozialisten wussten (mehr als wir heute?) um die spontane Menschlichkeit, von der Adam Smith spricht, und stellten sie – wenn auch mehr als verständliche Schwäche – bei den Mord-Anweisungen an ihre Anhänger in Rechnung.5

Zum Holocaust-Gedenktag 2018 möchten wir hier eine Lanze brechen für die
Psychiatrie-Pflegekräfte in der Zeit des Nationalsozialismus und an ihr Leiden erinnern.
Wir versuchen uns vorzustellen, wie es ihnen in dieser furchtbaren Zeit ergangen ist,

In dem Beitrag “Trauer”6 hat EREPRO vor kurzem auf eine “einfache, menschliche
Hilfsbereitschaft” dieser Pflegekräfte hingewiesen sowie auf die enge Verbundenheit mit den hilfsbedürftigen Opfern der NS-“Euthanasie”, mit denen sie zusammenlebten, oder ihnen jedenfalls sehr nah standen. Einsatz und Engagement dieser MitarbeiterInnen galt in der Regel dem Wohlergehen ihrer Schützlinge. Das war ihre berufliche Motivation. Und viele von uns, die in der Behindertenhilfe und der Psychiatrie arbeiten, kennen diese enge
Bindung und dieses Engagement.

Trotzdem werden diese Pflegekräfte immer wieder als “NS Komplizen”7 für die
(insbesondere die “wilden”) “Euthanasie”-Morde verantwortlich gemacht, zuletzt noch bei der T4-Gedenkveranstaltung 2017.8
Selten sieht man sie auch als Leidtragende der NS-”Euthanasie”, für die die Tötungen eine unerträgliche Katastrophe waren, ähnlich wie für die meisten Angehörigen der Getöteten.

Personalisieren wir mit so einer Vorwurfshaltung nicht zu sehr, statt das strukturelle Problem zu sehen?
Sollten wir uns nicht besser Gedanken machen über die bis heute ungebrochene Macht und häufig viel zu weit reichenden Entscheidungsbefugnisse über andere, die wir den Menschen zubilligen, die Medizin studiert haben, und deren eigentliche Aufgabe einfach die Krankenhilfe sein sollte?
Die Ausstattung dieser Menschen mit so außerordentlichem Einfluss kann ihre Mitleidsfähigkeit und Hilfsbereitschaft einschränken und bekommt vielen ärztlichen Helfern schlecht. Sie handeln vermeintlich im höheren Auftrag – das gesellschaftliche Ganze im Blick – und fühlen sich so bedeutend, dass sie leicht den einzelnen behinderten Mitmenschen aus dem Auge verlieren.

Während es Georg Diez nur um “Überlegungen” zur Moral geht (die allein schon
unzureichend erscheinen), erwarten wir von den Pflegekräften in der NS-Zeit ohne weiteres aktiven Widerstand gegen ärztliche Anweisungen und gegen staatliche Verordnungen – und sich damit in Gefahr zu begeben – als Konsequenz ihrer menschlichen Haltung. Setzt diese Kritik also falsch an?

lm Gegensatz zu den mächtigen Ärzten hätten die damaligen Pfleger sich als
Personengruppe ohnehin wenig Beachtung verschaffen können für Protest gegen die grausamen Anweisungen der Ärzte und zentraler oder regionaler staatlicher Stellen zu Maßnahmen der “Euthanasie”.
“Das berufliche Erziehungssystem der NS-Zeit dürfte in der Krankenpflege … die absolute Subordination der Pflegenden unter die ärztliche Anordnung in Deutschland auf die Spitze getrieben haben”, schreiben Wolff, H.-P. und Wolff, J.9 “Während der NS-Zeit wurden nicht nur erste professionelle Ansätze (in der Krankenpflege, EREPRO) rückgängig gemacht, sondern vielmehr verstand es der NS-Staat, eine willfährige Krankenpflege unter die Anordnung der Medizin zu stellen…”.10
Dieser rigorosen Einordnung in hierarchische Strukturen hatten die PflegerInnen in den Anstalten normalerweise wohl wenig entgegen zu setzen, auch wenn sie verzweifelten und unter Schuldgefühlen litten wegen der Bedrohung ihrer Schützlinge, denen sie kaum helfen konnten.

Die Internet-Recherche ergibt wenige spezifische Aussagen über die Tätigkeiten von Pflegepersonal im Rahmen der “Euthanasie”.
Einiges deutet darauf hin, dass eine ganze Reihe von PflegerInnen unter der Belastung ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten.11 “Zum Teil wurden die Tötungen an besonders vertrauenswürdiges (nicht in Anführungsstrichen!! EREPRO) Pflegepersonal delegiert.” so heißt es wenig aussagekräftig in dem Wikipedia-Artikel “Aktion Brandt”.12  Weniger empathische PflegerInnen mussten extra von außen angefordert werden, um die Patienten-Tötungen durch Medikamentenüberdosierung durchzuführen, wie die Krankenschwester und Tötungs-”Expertin” Pauline Kneissler. Eine “gekränkte”, aus ihrer Heimat vertriebene Frau13, die von Tötungsanstalt zu Tötungsanstalt reiste. In dem Wikipedia-Artikel über sie liest man aber auch von der damals als “falsch” geltenden, “pflegeorientierten Arbeitsweise der zuständigen Ordensschwestern”, welche die “Diätanordnungen des Chefarztes” (als Hunger-“Euthanasie”, EREPRO) unterliefen und den verhungernden Kranken Brot zusteckten.14
Einigen Krankenschwestern wurde wohl durch die Zugehörigkeit zu einer kirchlichen Schwesternschaft so viel Würde vermittelt, dass sie mehr Mut zum Handeln fanden, besonders wenn dort gleichzeitig eine gewisse Distanz zu staatlicher Autorität bestand – wie in erster Linie bei katholischen Schwesternschaften.
Ingo Harms: “Widerstand aus der Pflege kam vor allem von konfessioneller Seite, und hier wiederum von katholischer Seite. Aller Widerstand erwies sich als wirkungslos: Die Krankenmorde nahmen zum Kriegsende hin immer größere Ausmaße an und dauerten sogar teilweise bis 1949 an.”15
Alfred Döblin berichtet ein “Detail” aus dem Gespräch mit einem Arzt der Berliner Irrenanstalt Buch in den vierziger Jahren.
“Man verlangte etwas Furchtbares von dem Pflegepersonal. Man wünschte, dass alle zum Abtransport bestimmten Kranken ihren Namen auf der Haut trügen. Die Kranken waren zu zeichnen – die Pfleger und Pflegerinnen sagten: wie Schweine. Die Pfleger und Pflegerinnen sind Menschen, und wenn die Jahre umgehen, sind sie mit den Kranken verwachsen wie mit Verwandten. Sie kennen jede Eigenart und Absonderlichkeit ihrer kleinen Herde. Und da tippen Sie dann den auf und ab marschierenden Kranken, der und jener vor sich hin starrenden grotesken Figur auf den Arm und helfen ihnen die Bluse ablegen, das Hemd über der Brust abstreifen. Und während eine Pflegerin vorn das Geschöpf, das sich ruhig alles gefallen lässt, bei der Hand hält und ihm zuspricht, muss es ‘den Buckel krumm machen’, und die Pflegerin hinter ihm schreibt deutlich mit dem Farbstift einen Vor- und Zunamen auf Haut, Tränen in den Augen.”16

Die Qual der PflegerInnen sollte nicht vergessen werden.
Ganz im Sinne unserer Überlegungen beendete die bayerische Landtags-Präsidentin Barbara Stamm ihre Rede am 16.1.2018 beim zentralen bayerischen Trauerakt in der Einrichtung für behinderte Menschen, dem Sitz des Dominikus-Ringeisen-Werks im schwäbischen Ursberg, von wo auch 379 Menschen in den Tod geschickt wurden: “Es gab auch damals beherzte Menschen, Klosterfrauen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich der Grausamkeit entgegen stellten. (…) Für diesen Mut sind wir bis heute unendlich dankbar. Und sagen auch dafür in dieser Stunde ein herzliches “Vergelt’s Gott”.17

Es kann hier nicht Sinn der Sache sein, über das Ausmaß der “Schuld” damaliger
Pflegerinnen zu spekulieren. Entscheidender als “Schuldbekenntnisse von
Pflege-Verbänden”18 ist unserer Meinung nach heute eine intensive Auseinandersetzung über das Lebensrecht behinderter Menschen. Wollen oder brauchen wir sie, oder müssen wir nicht vielmehr alles tun, damit menschliche Behinderung möglichst gar nicht mehr vorkommt  – wie der Mainstream meint?
Im Zeitalter des “Leistungsrassismus”19 ist diese Thematik – keineswegs so überflüssig wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Sie läuft heute über unverfängliche Schienen wie “Wer wirklich will, der schafft es auch” “Arbeit für jeden”, und nahm in den 90ern wieder Fahrt auf unter dem Stichwort “leere Kassen”.
Aber – darauf weist Stefan Kaufmann hin – “Wer sich selbst und anderen die Schuld gibt, hat am herrschenden System nichts auszusetzen.” Es ist leichter das nationalsozialistische System zu kritisieren als unser heutiges “herrschendes System” in seiner Einstellung zu behinderten Menschen.

Natürliche Hilfsbereitschaft und Empathie bei jedem Menschen, ja, aber es ist gerade heute absolut unerlässlich diese Eigenschaften und Haltungen zu festigen durch Erziehung und Weiterbildung, Diskussion aller damit verbundener Aspekte sowie durch Kontakt der Bürger mit behinderten Menschen.

Anmerkungen
1 http://spon.de/ae6LB
2 Adam Smith (1723 -1790) ist weniger als Moralphilosoph bekannt denn als Ökonom. Die freie Marktwirtschaft des Kapitalismus bedeutet laut Smith, dass eigennütziges Handeln der Marktteilnehmer wie eine unsichtbare Hand für das Wohl aller sorgt.
3 hilfe Blätter von EREPRO Nr.16 mit den Titel “Grenze unserer Menschlichkeit. Wie
gefährlich sind Gekränkte?”, 2017,S. 59
4 hilfe Nr.16, 2017, S. 21.
5 s. Himmlers Posener Reden s. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Posener_Reden
s. 300 000 Menschen mit besonderen Belastungen getötet, www.erepro.de, Fachforum
6 https://www.erepro.de/psychiatrie-im-spiegel-von-erfahrung
7 In einigen wenigen Ausnahmefällen mag das zutreffen. s. Hilde Steppe, 2013, Krankenflege im Nationalsozialismus S. 144
8 s. Soziale Psychiatrie, 4/17, S. 43
s. der “Schwesternprozess” 1965 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46169641.html
und
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Krankenpflege_im_Nationalsozialismus
9 H.-P. Wolff und J. Wolff, Geschichte der Krankenpflege, Basel, 1994 S. 219 zitiert nach Martin Albert, Krankenpflege auf dem Weg zur Professionalisierung, 1998 S. 68
10 Martin Albert, aaO S. 69
11 Arbeitskreis Pflege in der DGSP, Günter Storck und Hilde Schädle-Deininger (Hrsg.) 75 Jahre Euthanasie-Erlass. Nachdenken über das, was wir in den
pflegerischen Berufen mit der Geschichte lernen können und was wir nachfolgenden Generationen weiter geben müssen und können. 2015. Pdf.
12 s. Wikipedia Aktion Brandt, https://de.m.wikipedia.org/wiki/Aktion_Brandt
13  “gekränkt” im Sinne der hilfe Blätter von EREPRO Nr. 16, 2017, Grenze unserer Menschlichkeit. Wie gefährlich sind Gekränkte?
14 https://de.wikipedia.org/wiki/Pauline_Kneissler
15 Ingo Harms, Die Rolle der Pflege in der NS Erbgesundheitspolitik und bei den
NS-Krankenmorden, 2014.
16  Aktion T4 1939 – 1945, Die “Euthanasie”-Zentrale in der Tiergartenstraße 4,
herausgegeben von Götz Aly, 1989, S. 211
17 s. Euthanasiedenkmal in Ursberg bei Günzburg, in hilfe Blätter von EREPRO Nr.13, 2008, S.50
Rede von Barbara Stamm – bis 20.1.2019 in der Mediathek des BR verfügbar:
https://www.br.de/mediathek/video/:5a27d60e40ab260018032395?sidebar=active
18 Hilde Steppe, 2013, Pflege im Nationalsozialismus S. 144
19 “Leistungsrassismus ist die moderne Variante des Nationalsozialismus…” Yasar Destan, Der Kirschbaum. 2017
https://books.google.de/books?id=75kzDwAAQBAJ&lpg=PT253&ots=6Ve4L1SaWz&dq=leistungsrassismus&hl=de&pg=PT239#v=onepage&q=leistungsrassismus&f=false
s. auch Stefan Kaufmann, Zehnfach verkehrt, in: Der Freitag, 50/2017 14.12.2017

Münchener Patientenverfügung für Psychiatriepatienten

Rudolf Winzen hat eine neue Psychiatrische Patientenverfügung erarbeitet.
Er schreibt: “Ich möchte Ihnen eine Neuigkeit vorstellen: Die “Münchener
Patientenverfügung” für Psychiatrie-Patienten. Es gab bisher zwar schon einige Psychiatrische Patientenverfügungen, aber diese sind allesamt krass antipsychiatrisch mit entsprechend aggressiver Wortwahl, zudem teilweise fehlerhaft.
Um diese Lücke zu schließen, habe ich eine neue Vorlage zur
Patientenverfügung erstellt: Sie ist *sachlich* und *neutral* formuliert
und deshalb für jeden Psychiatrie-Patienten geeignet. Jeder kann die
Bausteine der Verfügung nach seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen
zusammenstellen: Das Spektrum reicht von kooperativ über
psychiatriekritisch bis antipsychiatrisch.
Es geht schlicht und einfach darum, die Selbstbestimmung des Patienten
sicherzustellen, gleichgültig welche Einstellung er zur Psychiatrie hat.
Ich gebe dabei lediglich einige Empfehlungen und weise auf eventuelle
Probleme hin. Mein Standpunkt ist psychiatriekritisch, nicht
antipsychiatrisch.
Zur besseren Unterscheidung von anderen Vorlagen habe ich sie “Münchener
Patientenverfügung” genannt.

Hier der direkte Link:
https://wegweiser-betreuung.de/psychiatrie/patientenverfuegung”

In der Psychosozialen Umschau 1/2018 S. 43 finden SIe einen Artikel von R. WInzen: Vorsorge für psychische Krisen. Die Münchener Patientenverfügung.

Behindertenrechtskonvention in Panama und anderen Ländern. Bericht von Th. Degener

Seit einigen Jahren bekommt EREPRO regelmäßig Berichte über die Arbeit des VN (Vereinte Nationen)-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (englisch – CRPD-Ausschuss) von Frau Prof. Dr. Degener, die selbst – ohne Arme – behindert ist. Sie engagiert sich (als einzige Frau in dem Ausschuss) besonders für die Rechte behinderter Frauen. In dem neuesten “Bericht aus Genf 14/2017 geht es um die sog. Staatenberichte zur UNBehindertenrechtskonvention der Länder Panama, Marokko, Montenegro, Lettland, Luxemburg und Großbritanien.
Diese UN Staatenberichte, angefertigt in einem langwierigen Verfahren mit vielen Beteiligten, rücken die Verhältnisse für behinderte Menschen in den jeweiligen Ländern oft erstmals ins Licht der Öffentlichkeit. Menschenrechtsverletzungen  gegenüber Menschen mit Behinderungen werden benannt und beanstandet. Die Auseinandersetzung darüber vermittelt ihre Ansprüche auf menschenwürdige Behandlung, wie sie die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht. Die Realisierung der Verbesserungsvorschläge wird später ebenfalls überprüft.
Der deutsche Staatenbericht wurde schon 2015 verfasst und mit 62 Empfehlungen ziemlich kritisch beurteilt. (s. http://www.erepro.de/2015/06/05/staatenberichtsprufung-deutschlands-zur-umsetzung-der-un-behindertenrechtskonvention-un-brk-durch-die-vereinten-nationen-abschliesende-bemerkungen/
s. zur Umsetzung in Deutschland http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuell/news/meldung/article/die-umsetzung-der-un-brk-ist-laengst-nicht-abgeschlossen/

Die Lektüre dieses Berichtes von Frau Degener führt uns die Rechte behinderter Menschen noch einmal vor Augen. Es gibt einen link für alle Dokumente aus den einzelnen Länder, die natürlich sehr unterschiedlich mit beeinträchtigten Menschen umgehen.
Wir bringen hier eine Zusammenstellung einzelner Punkte aus dem neuesten Bericht für Leser, die nicht die Zeit haben, den ganzen Bericht zu lesen.

Zunächst einige Bemerkungen aus der 35. Sitzung des UN Menschenrechtsrats. Dort erklärte der “Sonderberichterstatter für den Genuss des Rechts auf den höchstmöglichen Standard an physischer und psychischer Gesundheit”, Danius Puras, das reduktionistische biomedizinische Verständnis psychischer Beeinträchtigungen habe weltweit zu Exklusion und Menschenrechts-verletzungen bei Menschen mit Lernschwierigkeiten und psychosozialen Beeinträchtigungen geführt. Dank der UN BRK (Behindertenrechtskonvention, EREPRO) und der damit verbundenenen verstärkten Sammlung von Daten und dank einer engagierten Zivilgesellschaft sei es immerhin gelungen, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Puras forderte die Staaten auf sicherzustellen, dass Psychiatrienutzer* innen in Planung, Umsetzung und Evaluation von Diensten involviert werden, dass keine Ressourcen in stationäre Einrichtungen, sondern in gemeindenahe Dienste fließen, dass in psychosoziale Dienste so investiert wird, dass gemeindenahes und autonomes Leben möglich ist, sowie konkrete Maßnahmen zur Reduktion und Abschaffung von Zwangsbehandlungen zu ergreifen. Schließlich war es ein wichtiges Anliegen, die Staatenkonferenz darauf hinzuweisen, dass die Vereinten Nationen sich verstärkt für Barrierefreiheit und angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten und psychosozialen Beeinträchtigungen einsetzen müssen, indem sie entsprechende Standards entwickeln und umsetzen.
Mit großer Sorge beobachte der Ausschuss zudem den Entwurf für das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarats, das sogenannte Oviedo-Protokoll. “Mehrfach haben wir zwar darauf hingewiesen, dass der Entwurf den Allgemeinen Bemerkungen des Ausschusses zu Artikel 12 UN BRK widerspricht und auch den Richtlinien zur Umsetzung von Artikel 14 UN BRK”, so Theresia Degener. In diesen Dokumenten wie auch in der Rechtsprechung des Ausschusses wurden Standards gesetzt, die die Abschaffung des Systems der ersetzenden Entscheidungsfindung zugunsten der unterstützten Entscheidungsfindung fordern und Zwangsbehandlung und Zwangseinweisung in Widerspruch zur UN BRK sehen. Theresia Degener rief das OHCHR (Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte, EREPRO) und die Vereinten Nationen dazu auf, sich in diese Debatte einzumischen und zu engagieren.

Zum Staatenbericht Panama:
Im Dialog äußerte sich Theresia Degener besorgt, dass im Staatenbericht an vielen Stellen Prävention von Behinderung als Maßnahme zur Umsetzung der UN BRK genannt werde. Sie betonte, dass nicht Prävention, sondern die Rechte von Menschen mit Behinderungen Anliegen der Konvention seien (Art. 4 und 8 UNBRK). Sie wollte wissen, wie die Regierung diese stigmatisierende Politik erkläre und rechtfertige. Ähnlich besorgniserregend sei der Umstand, dass das medizinische Modell von Behinderung immer noch vorherrschend sei. So gebe es u.a. nach wie vor Spendenkampagnen, die auf Wohltätigkeit und Mitleid mit behinderten Menschen aufbauten. …
Im Zentrum stünden Barrierefreiheit und nichtdiskriminierende Sprache. Das Problem der Spendenkampagnen sei der Regierung wohl bewusst. Um es zu lösen, bat man den Ausschuss und die DPOs (Behindertenorganisationen, EREPRO) um technische Beratung. In ihren weiteren Fragen nahm Theresia Degener vor allem die Lage von Frauen und Mädchen mit Behinderungen in den Blick. In Bezug auf Art. 13 UN BRK (Recht auf Zugang zur Justiz) erkundigte sie sich, ob und wie Richter im menschenrechtlichen Modell von Behinderung geschult und welche Maßnahmen ergriffen würden, um insbesondere den behinderten Frauen Zugang zur Justiz zu ermöglichen. Außerdem merkte sie an, dass der Bericht wohl das Verbot von Zwangsbehandlung, Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisation etc. festhalte, aber keine Aussage über die Praxis, die tatsächliche Umsetzung des Verbots enthalte. Das Projekt Familia Impresa, so die Antwort der Delegation, führe ein breites Schulungsprogramm durch, das insbesondere Gewaltschutz von Frauen mit Behinderungen und die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Frauen und ihrer Kinder in den Blick nehme. … 4 Frauenhäuser seien eingerichtet und 17 Staatsanwälte für Gewalt gegen Frauen berufen worden.

Im Bericht aus Marokko … (wurde kritisiert, dass) im Rahmengesetz 97–13 aus 2016 die Rechte von Menschen mit Lernschwierigkeiten sowie von Frauen und Mädchen mit Behinderungen nicht berücksichtigt würden. Besorgniserregend sei in Bezug auf diese Personengruppe die mehrfache Diskriminierung und Gewalt, der sie ausgesetzt ist. Eine nationale Studie aus 2011 hatte gezeigt, dass mehr als 62 Prozent der behinderten Frauen in Marokko Opfer von Gewalt wurden. …
Dazu gehöre auch die Schließung von Heimen für behinderte Kinder. Theresia Degener wies darauf hin, dass im Bericht Fragen der Behinderung mit Fragen geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung vermischt würden, so würden lesbische, homosexuelle, bisexuelle, Transgender- und intersexuelle Personen als geistig krank behandelt. Mit Blick auf Art. 12 UN BRK betonte sie, dass ein Familiengesetz, das Menschen mit Lernschwierigkeiten die rechtliche Handlungsfähigkeit abspricht und sie unter Betreuung stellt, im Widerspruch zur UN BRK stehe. Sie fragte, ob die Regierung Marokkos dies ändern und das System der unterstützten Entscheidungsfindung einführen wolle.

Montengro. Mit Blick auf das Gesetz zum Schutz der Rechte von Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen fragte sie (Degener, EREPRO), warum die Polizei in Montenegro Personen aufgrund eines Verdachts einer solchen Beeinträchtigung in Gewahrsam nehmen dürfe. …

Lage der Menschen mit Behinderungen in Lettland. … Erfolge der bewusstseinsbildenden Kampagne in 2011. Ein Viertel der Bevölkerung habe angegeben, infolge der Kampagne seine Meinung über Menschen mit Behinderungen geändert zu haben. Dennoch: Der “Löwenanteil” in der Umsetzung der Konvention bleibe Aufgabe für die Zukunft, … Mit DPOs sei an der Reform des bürgerlichen Rechts gearbeitet und die vollständige Einschränkung der rechtlichen Handlungsfähigkeit abgeschafft worden. Er empfahl der Regierung, einen Nationalen Aktionsplan und ein Rahmendokument für die Deinstitutionalisierung zu entwickeln. Weitere Herausforderungen seien das immer noch vorherrschende medizinische Verständnis von Behinderung und der damit verbundene defizitorientierte Blick auf Menschen mit Behinderungen. … Beunruhigend finde der Ausschuss auch die hohe Zahl an Todesfällen in Einrichtungen für Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen und Lernschwierigkeiten. Im Dialog stellte Theresia Degener fest, dass der Bericht nichts über Programme zur Förderung von Frauen mit Behinderungen sagt. … So gebe es noch 60 Sonderschulen in Lettland und der Bericht sage nichts über Pläne, diese zu schließen oder in inklusive Einrichtungen umzuwandeln. …

Der “Sonderbotschafter für Klimawandel und Menschenrechte des Außenministeriums”von Luxemburg, Marc Bichler, stellte den Bericht seines Landes vor. In den letzten 2 Jahren seien 5 Mio. Euro für selbstbestimmtes Leben und Inklusion investiert worden. Inklusion im Arbeitsmarkt habe dabei oberste Priorität. … Lobenswert hingegen fand Theresia Degener das erklärte Bestreben des Landes, bei der Reform des Betreuungsrechts die vollständige rechtliche Handlungsfähigkeit aller Menschen zu erhalten. Jedoch stehe die vorgeschlagene Reform nicht in Einklang mit der Konvention, die die Abschaffung der ersetzenden und die Einführung der unterstützten Entscheidungsfindung fordere. Zudem kritisierte sie, dass in den Reformprozess nur Jurist*innen involviert gewesen seien, aber keine Vertreter*innen von DPOs. … In Bezug auf Art. 19 UN BRK wies Theresia Degener darauf hin, dass auch das Leben in kleinen Wohngruppen immer noch ein Leben in einer Einrichtung bedeute und nicht gleichzusetzen sei mit einem individuellen, selbstbestimmten Leben. Von den Ausschussmitgliedern wurden Informationen gewünscht, wie die Gelder des Europäischen Sozialfonds (ESF) für Deinstitutionalisierung und gemeindenahe Assistenzdienste eingesetzt würden. …

Großbritannien … (Problem der) sozialen Kürzungen und deren teils katastrophalen Auswirkungen auf das Leben von Menschen mit Behinderungen. … (Man) beklagte, dass sich Dezentralisierung und Brexit negativ auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen auswirkten … neue Strategie der Regierung für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen. Es sei ein Beauftragter für  häusliche Gewalt eingesetzt worden, der darauf achten solle, dass auch lokal bedarfsgerechte Unterstützungsdienste verfügbar sind. … In Bezug auf Genitalverstümmelung, so die Delegation, gebe es eine Beschwerdestelle, die Anzeigen entgegennimmt und untersucht. Die Stelle diene auch der Vorbeugung, damit Kinder etwa zum Zweck eines Eingriffs nicht außer Landes gebracht werden können. Besorgt äußerte sich Theresia Degener zum Umgang mit Flüchtlingen mit Behinderungen. So seien bereits minderjährige Flüchtlinge abgewiesen worden, weil man mit ihnen nicht “umgehen” könne. … Abschließend forderte Theresia Degener die Regierung Großbritanniens auf, die Vorbehaltsklauseln gegen die Konvention (z.B. gegen Art. 24 UN BRK) aufzuheben. Das Land sehe sich gern in der Vorreiterrolle. Führend in der Umsetzung von Behindertenrechten zu sein, bedeute aber auch, Verantwortung zu übernehmen.

Mehr zum Thema bei EREPRO:

UN überprüft Selbstbestimmung – auch in der Psychiatrie


http://www.erepro.de/2015/05/04/staatenprufung-deutschland s-durch-un-behindertenausschuss-hat-stattgefunden/

„Psychosen: Inzidenz schwankt international sehr stark“

Den Hinweis auf den entsprechenden Artikel im Ärzteblatt vom 7.12.2017 bekamen wir von Dr. Jürgen Thorwart. (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/86905/Psychosen-Inzidenz-schwankt-international-sehr-stark)

Psychiater und Psychologen haben seit Jahrzehnten im Studium gelernt, dass Psychosen in allen Ländern etwa gleich häufig bei ca. einem Prozent der Bevölkerung auftreten. Wikipedia verkündet das auch, wenn auch etwas vorsichtiger: “Dabei scheint es zwischen verschiedenen Kulturen keine oder nur geringe Unterschiede in der Häufigkeit zu geben.” Diese “Erkenntnis” geht also nicht erst auf eine Studie der Weltgesundheits-Organisation von 1978 zurück, wie in dem Ärzteblatt-Artikel behauptet, sondern sie kursiert schon viel länger.
Wikipedia gibt für die Behauptung keine Quelle an. Andere Internetseiten zum Thema ebenfalls nicht:
http://www.psychose-psychotherapieforschung.de/ppp/?q=node/26, https://psylex.de/stoerung/psychose/haeufigkeit.html, http://psychiatriegespraech.de/psychische_krankheiten/schizophrenie/schizophrenie_epidemiologie/.
Letztere, d
ie Seite “Psychiatriegespräch”, spricht aber eine ernste Warnung aus hinsichtlich der “Fakten”:
“Achtung: Epidemiologische Daten in der Forschungsliteratur weisen oft erhebliche Schwankungen und Unterschiede auf. Dies liegt oft an unterschiedlichen Ein- und Ausschlusskriterien hinsichtlich Definition der Störung, Einbezug von Einzelphasen oder Gesamtverlauf, sämtlicher Manifestationen oder nur bestimmter Schweregrade etc.. Deshalb sind die nachfolgend genannten und aus der Fachliteratur zusammengestellten Zahlen und Daten zur Häufigkeit und Verteilung der Schizophrenie nur als grobe Anhaltspunkte zu werten und sind bei Bedarf persönlich durch eigene Beschäftigung mit der Literatur zu überprüfen!”
Diese Relativierung gilt auch für die im Artikel des Ärzteblatt beschriebene Untersuchung, die wir leider nicht selber nachlesen konnten, um eine fundierte Methodenkritik zu leisten.

Es geht dabei um eine Untersuchung des „European Network of National Schizophrenia Networks Studying Gene-Environment Interactions“ (EU-GEI).
“Ein Team um James Kirkbride vom University College London hat die Daten aus 17 Regionen in Großbritannien, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Spanien und Brasilien zusammengetragen. Darunter waren Großstädte wie Paris und London, aber auch ländliche Regionen wie Cuenca in Spanien oder Ribeirão Preto in Brasilien.” (Ärzteblatt).

Festgestellt wurden deutliche Unterschiede in der Inzidenz der ersten psychotischen Episode (FEP). Man fand Stadt-Land Unterschiede (in London erkranken mehr Personen als in Santiago de Compostela), und ein Nord-Süd-Gefälle (in Palermo, Barcelona und Madrid sind Psychosen seltener als im Marnetal südlich von Paris). Neben den geographischen – stellte man fest – spielen auch soziale Faktoren eine Rolle. Wohlstand habe möglicherweise eine schützende Funktion, während Single Haushalte für eine soziale Vereinsamung stehen, die das Erkrankungsrisiko erhöhe.
Ethnische Minderheiten, die sich als Außenseiter fühlen, sind der Studie zufolge ebenfalls besonders gefährdet an einer Psychose zu erkranken. “Es sei denn sie leben in Gegenden mit einer hohen ethnischen Durchmischung.” “Der kulturelle Austausch scheint eine gewisse protektive Wirkung gegen gewisse mentale Probleme zu haben, meint Kirkbride. Die Studie zeigt seiner Ansicht nach, dass Umweltfaktoren insgesamt eine größere Bedeutung für die Entstehung psychotischer Störungen haben als vielfach angenommen.” (Ärzteblatt)

Die Studie wurde veröffentlicht in JAMA Psychiatry (2017; doi: 10.1001/jamapsychiatry.2017.3554).