Vor kurzem brachte “Spiegel online” eine Kolumne “Faulheit der Herzen” von Georg Diez.1 “Gesellschaftlicher Opportunismus” nennt es dieser Autor, wenn man heute nicht klar zu den Überlegungen steht, welche “die moralischen Grundlagen dafür schaffen, dass die Menschen miteinander in Gerechtigkeit leben und verstehen, dass Solidarität zum Kern dessen gehört, was uns zu Menschen macht, dass Hilfe, Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit nichts ist, was man sich leisten kann oder nicht leisten kann, sondern der Ausgangspunkt für alles Zusammenleben.”.
Überrascht liest man bei Diez ein Zitat von Adam Smith2: “Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. Ein Prinzip dieser Art ist das Erbarmen oder das Mitleid, das Gefühl, das wir für das Elend anderer empfinden, sobald wir dieses entweder selbst sehen, oder sobald es uns so lebhaft geschildert wird, dass wir es nachfühlen können.”
EREPRO plädierte im letzten hilfe– Heft ebenfalls für Mitleiden und Menschlichkeit, stellte aber fest: “Und doch – mit einem EInsatz für die Liebe, die Hilfe und Vernunft, von Recht und für Gerechtigkeit statt Kampf gegeneinander sowie Konkurrenz kann man sich heute wenig Lorbeeren verdienen.”3
Auch Diez spricht von einem “seit Jahren andauernden moralfeindlichen deutschen Diskurs, mit dem – speziell in der Frage des Umgangs mit Geflüchteten, aber auch darüber hinaus – eine Gesellschaft der Kälte institutionalisiert werden soll, durch eine Stigmatisierung von Positionen, die Menschlichkeit in den Mittelpunkt stellen wollen.” Dazu EREPRO: “Mit kaltem Denken wähnt man sich besonders realistisch. Man meint, auf diese Art Gefahren zeitig zu bannen, und trotzt so seiner Angst. Oft ohne sie als solche zu erkennen. Auffällig ist, dass diesen Menschen nicht selten Gelassenheit und Abstand fehlen. Sie wirken immer angespannt und gar nicht flexibel. Sie neigen zu Voraussagen von Schrecklichem –
scheinbar ermächtigt und befähigt durch einen unbeteiligt kalten Blick auf alles – ohne ein eigenes Gefühl.”4
Sogar die unmenschlichen Nationalsozialisten wussten (mehr als wir heute?) um die spontane Menschlichkeit, von der Adam Smith spricht, und stellten sie – wenn auch mehr als verständliche Schwäche – bei den Mord-Anweisungen an ihre Anhänger in Rechnung.5
Zum Holocaust-Gedenktag 2018 möchten wir hier eine Lanze brechen für die
Psychiatrie-Pflegekräfte in der Zeit des Nationalsozialismus und an ihr Leiden erinnern.
Wir versuchen uns vorzustellen, wie es ihnen in dieser furchtbaren Zeit ergangen ist,
In dem Beitrag “Trauer”6 hat EREPRO vor kurzem auf eine “einfache, menschliche
Hilfsbereitschaft” dieser Pflegekräfte hingewiesen sowie auf die enge Verbundenheit mit den hilfsbedürftigen Opfern der NS-“Euthanasie”, mit denen sie zusammenlebten, oder ihnen jedenfalls sehr nah standen. Einsatz und Engagement dieser MitarbeiterInnen galt in der Regel dem Wohlergehen ihrer Schützlinge. Das war ihre berufliche Motivation. Und viele von uns, die in der Behindertenhilfe und der Psychiatrie arbeiten, kennen diese enge
Bindung und dieses Engagement.
Trotzdem werden diese Pflegekräfte immer wieder als “NS Komplizen”7 für die
(insbesondere die “wilden”) “Euthanasie”-Morde verantwortlich gemacht, zuletzt noch bei der T4-Gedenkveranstaltung 2017.8
Selten sieht man sie auch als Leidtragende der NS-”Euthanasie”, für die die Tötungen eine unerträgliche Katastrophe waren, ähnlich wie für die meisten Angehörigen der Getöteten.
Personalisieren wir mit so einer Vorwurfshaltung nicht zu sehr, statt das strukturelle Problem zu sehen?
Sollten wir uns nicht besser Gedanken machen über die bis heute ungebrochene Macht und häufig viel zu weit reichenden Entscheidungsbefugnisse über andere, die wir den Menschen zubilligen, die Medizin studiert haben, und deren eigentliche Aufgabe einfach die Krankenhilfe sein sollte?
Die Ausstattung dieser Menschen mit so außerordentlichem Einfluss kann ihre Mitleidsfähigkeit und Hilfsbereitschaft einschränken und bekommt vielen ärztlichen Helfern schlecht. Sie handeln vermeintlich im höheren Auftrag – das gesellschaftliche Ganze im Blick – und fühlen sich so bedeutend, dass sie leicht den einzelnen behinderten Mitmenschen aus dem Auge verlieren.
Während es Georg Diez nur um “Überlegungen” zur Moral geht (die allein schon
unzureichend erscheinen), erwarten wir von den Pflegekräften in der NS-Zeit ohne weiteres aktiven Widerstand gegen ärztliche Anweisungen und gegen staatliche Verordnungen – und sich damit in Gefahr zu begeben – als Konsequenz ihrer menschlichen Haltung. Setzt diese Kritik also falsch an?
lm Gegensatz zu den mächtigen Ärzten hätten die damaligen Pfleger sich als
Personengruppe ohnehin wenig Beachtung verschaffen können für Protest gegen die grausamen Anweisungen der Ärzte und zentraler oder regionaler staatlicher Stellen zu Maßnahmen der “Euthanasie”.
“Das berufliche Erziehungssystem der NS-Zeit dürfte in der Krankenpflege … die absolute Subordination der Pflegenden unter die ärztliche Anordnung in Deutschland auf die Spitze getrieben haben”, schreiben Wolff, H.-P. und Wolff, J.9 “Während der NS-Zeit wurden nicht nur erste professionelle Ansätze (in der Krankenpflege, EREPRO) rückgängig gemacht, sondern vielmehr verstand es der NS-Staat, eine willfährige Krankenpflege unter die Anordnung der Medizin zu stellen…”.10
Dieser rigorosen Einordnung in hierarchische Strukturen hatten die PflegerInnen in den Anstalten normalerweise wohl wenig entgegen zu setzen, auch wenn sie verzweifelten und unter Schuldgefühlen litten wegen der Bedrohung ihrer Schützlinge, denen sie kaum helfen konnten.
Die Internet-Recherche ergibt wenige spezifische Aussagen über die Tätigkeiten von Pflegepersonal im Rahmen der “Euthanasie”.
Einiges deutet darauf hin, dass eine ganze Reihe von PflegerInnen unter der Belastung ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten.11 “Zum Teil wurden die Tötungen an besonders vertrauenswürdiges (nicht in Anführungsstrichen!! EREPRO) Pflegepersonal delegiert.” so heißt es wenig aussagekräftig in dem Wikipedia-Artikel “Aktion Brandt”.12 Weniger empathische PflegerInnen mussten extra von außen angefordert werden, um die Patienten-Tötungen durch Medikamentenüberdosierung durchzuführen, wie die Krankenschwester und Tötungs-”Expertin” Pauline Kneissler. Eine “gekränkte”, aus ihrer Heimat vertriebene Frau13, die von Tötungsanstalt zu Tötungsanstalt reiste. In dem Wikipedia-Artikel über sie liest man aber auch von der damals als “falsch” geltenden, “pflegeorientierten Arbeitsweise der zuständigen Ordensschwestern”, welche die “Diätanordnungen des Chefarztes” (als Hunger-“Euthanasie”, EREPRO) unterliefen und den verhungernden Kranken Brot zusteckten.14
Einigen Krankenschwestern wurde wohl durch die Zugehörigkeit zu einer kirchlichen Schwesternschaft so viel Würde vermittelt, dass sie mehr Mut zum Handeln fanden, besonders wenn dort gleichzeitig eine gewisse Distanz zu staatlicher Autorität bestand – wie in erster Linie bei katholischen Schwesternschaften.
Ingo Harms: “Widerstand aus der Pflege kam vor allem von konfessioneller Seite, und hier wiederum von katholischer Seite. Aller Widerstand erwies sich als wirkungslos: Die Krankenmorde nahmen zum Kriegsende hin immer größere Ausmaße an und dauerten sogar teilweise bis 1949 an.”15
Alfred Döblin berichtet ein “Detail” aus dem Gespräch mit einem Arzt der Berliner Irrenanstalt Buch in den vierziger Jahren.
“Man verlangte etwas Furchtbares von dem Pflegepersonal. Man wünschte, dass alle zum Abtransport bestimmten Kranken ihren Namen auf der Haut trügen. Die Kranken waren zu zeichnen – die Pfleger und Pflegerinnen sagten: wie Schweine. Die Pfleger und Pflegerinnen sind Menschen, und wenn die Jahre umgehen, sind sie mit den Kranken verwachsen wie mit Verwandten. Sie kennen jede Eigenart und Absonderlichkeit ihrer kleinen Herde. Und da tippen Sie dann den auf und ab marschierenden Kranken, der und jener vor sich hin starrenden grotesken Figur auf den Arm und helfen ihnen die Bluse ablegen, das Hemd über der Brust abstreifen. Und während eine Pflegerin vorn das Geschöpf, das sich ruhig alles gefallen lässt, bei der Hand hält und ihm zuspricht, muss es ‘den Buckel krumm machen’, und die Pflegerin hinter ihm schreibt deutlich mit dem Farbstift einen Vor- und Zunamen auf Haut, Tränen in den Augen.”16
Die Qual der PflegerInnen sollte nicht vergessen werden.
Ganz im Sinne unserer Überlegungen beendete die bayerische Landtags-Präsidentin Barbara Stamm ihre Rede am 16.1.2018 beim zentralen bayerischen Trauerakt in der Einrichtung für behinderte Menschen, dem Sitz des Dominikus-Ringeisen-Werks im schwäbischen Ursberg, von wo auch 379 Menschen in den Tod geschickt wurden: “Es gab auch damals beherzte Menschen, Klosterfrauen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich der Grausamkeit entgegen stellten. (…) Für diesen Mut sind wir bis heute unendlich dankbar. Und sagen auch dafür in dieser Stunde ein herzliches “Vergelt’s Gott”.17
Es kann hier nicht Sinn der Sache sein, über das Ausmaß der “Schuld” damaliger
Pflegerinnen zu spekulieren. Entscheidender als “Schuldbekenntnisse von
Pflege-Verbänden”18 ist unserer Meinung nach heute eine intensive Auseinandersetzung über das Lebensrecht behinderter Menschen. Wollen oder brauchen wir sie, oder müssen wir nicht vielmehr alles tun, damit menschliche Behinderung möglichst gar nicht mehr vorkommt – wie der Mainstream meint?
Im Zeitalter des “Leistungsrassismus”19 ist diese Thematik – keineswegs so überflüssig wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Sie läuft heute über unverfängliche Schienen wie “Wer wirklich will, der schafft es auch” “Arbeit für jeden”, und nahm in den 90ern wieder Fahrt auf unter dem Stichwort “leere Kassen”.
Aber – darauf weist Stefan Kaufmann hin – “Wer sich selbst und anderen die Schuld gibt, hat am herrschenden System nichts auszusetzen.” Es ist leichter das nationalsozialistische System zu kritisieren als unser heutiges “herrschendes System” in seiner Einstellung zu behinderten Menschen.
Natürliche Hilfsbereitschaft und Empathie bei jedem Menschen, ja, aber es ist gerade heute absolut unerlässlich diese Eigenschaften und Haltungen zu festigen durch Erziehung und Weiterbildung, Diskussion aller damit verbundener Aspekte sowie durch Kontakt der Bürger mit behinderten Menschen.
Anmerkungen
1 http://spon.de/ae6LB
2 Adam Smith (1723 -1790) ist weniger als Moralphilosoph bekannt denn als Ökonom. Die freie Marktwirtschaft des Kapitalismus bedeutet laut Smith, dass eigennütziges Handeln der Marktteilnehmer wie eine unsichtbare Hand für das Wohl aller sorgt.
3 hilfe Blätter von EREPRO Nr.16 mit den Titel “Grenze unserer Menschlichkeit. Wie
gefährlich sind Gekränkte?”, 2017,S. 59
4 hilfe Nr.16, 2017, S. 21.
5 s. Himmlers Posener Reden s. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Posener_Reden
s. 300 000 Menschen mit besonderen Belastungen getötet, www.erepro.de, Fachforum
6 https://www.erepro.de/psychiatrie-im-spiegel-von-erfahrung
7 In einigen wenigen Ausnahmefällen mag das zutreffen. s. Hilde Steppe, 2013, Krankenflege im Nationalsozialismus S. 144
8 s. Soziale Psychiatrie, 4/17, S. 43
s. der “Schwesternprozess” 1965 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46169641.html
und
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Krankenpflege_im_Nationalsozialismus
9 H.-P. Wolff und J. Wolff, Geschichte der Krankenpflege, Basel, 1994 S. 219 zitiert nach Martin Albert, Krankenpflege auf dem Weg zur Professionalisierung, 1998 S. 68
10 Martin Albert, aaO S. 69
11 Arbeitskreis Pflege in der DGSP, Günter Storck und Hilde Schädle-Deininger (Hrsg.) 75 Jahre Euthanasie-Erlass. Nachdenken über das, was wir in den
pflegerischen Berufen mit der Geschichte lernen können und was wir nachfolgenden Generationen weiter geben müssen und können. 2015. Pdf.
12 s. Wikipedia Aktion Brandt, https://de.m.wikipedia.org/wiki/Aktion_Brandt
13 “gekränkt” im Sinne der hilfe Blätter von EREPRO Nr. 16, 2017, Grenze unserer Menschlichkeit. Wie gefährlich sind Gekränkte?
14 https://de.wikipedia.org/wiki/Pauline_Kneissler
15 Ingo Harms, Die Rolle der Pflege in der NS Erbgesundheitspolitik und bei den
NS-Krankenmorden, 2014.
16 Aktion T4 1939 – 1945, Die “Euthanasie”-Zentrale in der Tiergartenstraße 4,
herausgegeben von Götz Aly, 1989, S. 211
17 s. Euthanasiedenkmal in Ursberg bei Günzburg, in hilfe Blätter von EREPRO Nr.13, 2008, S.50
Rede von Barbara Stamm – bis 20.1.2019 in der Mediathek des BR verfügbar:
https://www.br.de/mediathek/video/:5a27d60e40ab260018032395?sidebar=active
18 Hilde Steppe, 2013, Pflege im Nationalsozialismus S. 144
19 “Leistungsrassismus ist die moderne Variante des Nationalsozialismus…” Yasar Destan, Der Kirschbaum. 2017
https://books.google.de/books?id=75kzDwAAQBAJ&lpg=PT253&ots=6Ve4L1SaWz&dq=leistungsrassismus&hl=de&pg=PT239#v=onepage&q=leistungsrassismus&f=false
s. auch Stefan Kaufmann, Zehnfach verkehrt, in: Der Freitag, 50/2017 14.12.2017