Den Hinweis auf den entsprechenden Artikel im Ärzteblatt vom 7.12.2017 bekamen wir von Dr. Jürgen Thorwart. (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/86905/Psychosen-Inzidenz-schwankt-international-sehr-stark)
Psychiater und Psychologen haben seit Jahrzehnten im Studium gelernt, dass Psychosen in allen Ländern etwa gleich häufig bei ca. einem Prozent der Bevölkerung auftreten. Wikipedia verkündet das auch, wenn auch etwas vorsichtiger: “Dabei scheint es zwischen verschiedenen Kulturen keine oder nur geringe Unterschiede in der Häufigkeit zu geben.” Diese “Erkenntnis” geht also nicht erst auf eine Studie der Weltgesundheits-Organisation von 1978 zurück, wie in dem Ärzteblatt-Artikel behauptet, sondern sie kursiert schon viel länger.
Wikipedia gibt für die Behauptung keine Quelle an. Andere Internetseiten zum Thema ebenfalls nicht:
http://www.psychose-psychotherapieforschung.de/ppp/?q=node/26, https://psylex.de/stoerung/psychose/haeufigkeit.html, http://psychiatriegespraech.de/psychische_krankheiten/schizophrenie/schizophrenie_epidemiologie/.
Letztere, die Seite “Psychiatriegespräch”, spricht aber eine ernste Warnung aus hinsichtlich der “Fakten”:
“Achtung: Epidemiologische Daten in der Forschungsliteratur weisen oft erhebliche Schwankungen und Unterschiede auf. Dies liegt oft an unterschiedlichen Ein- und Ausschlusskriterien hinsichtlich Definition der Störung, Einbezug von Einzelphasen oder Gesamtverlauf, sämtlicher Manifestationen oder nur bestimmter Schweregrade etc.. Deshalb sind die nachfolgend genannten und aus der Fachliteratur zusammengestellten Zahlen und Daten zur Häufigkeit und Verteilung der Schizophrenie nur als grobe Anhaltspunkte zu werten und sind bei Bedarf persönlich durch eigene Beschäftigung mit der Literatur zu überprüfen!”
Diese Relativierung gilt auch für die im Artikel des Ärzteblatt beschriebene Untersuchung, die wir leider nicht selber nachlesen konnten, um eine fundierte Methodenkritik zu leisten.
Es geht dabei um eine Untersuchung des „European Network of National Schizophrenia Networks Studying Gene-Environment Interactions“ (EU-GEI).
“Ein Team um James Kirkbride vom University College London hat die Daten aus 17 Regionen in Großbritannien, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Spanien und Brasilien zusammengetragen. Darunter waren Großstädte wie Paris und London, aber auch ländliche Regionen wie Cuenca in Spanien oder Ribeirão Preto in Brasilien.” (Ärzteblatt).
Festgestellt wurden deutliche Unterschiede in der Inzidenz der ersten psychotischen Episode (FEP). Man fand Stadt-Land Unterschiede (in London erkranken mehr Personen als in Santiago de Compostela), und ein Nord-Süd-Gefälle (in Palermo, Barcelona und Madrid sind Psychosen seltener als im Marnetal südlich von Paris). Neben den geographischen – stellte man fest – spielen auch soziale Faktoren eine Rolle. Wohlstand habe möglicherweise eine schützende Funktion, während Single Haushalte für eine soziale Vereinsamung stehen, die das Erkrankungsrisiko erhöhe.
Ethnische Minderheiten, die sich als Außenseiter fühlen, sind der Studie zufolge ebenfalls besonders gefährdet an einer Psychose zu erkranken. “Es sei denn sie leben in Gegenden mit einer hohen ethnischen Durchmischung.” “Der kulturelle Austausch scheint eine gewisse protektive Wirkung gegen gewisse mentale Probleme zu haben, meint Kirkbride. Die Studie zeigt seiner Ansicht nach, dass Umweltfaktoren insgesamt eine größere Bedeutung für die Entstehung psychotischer Störungen haben als vielfach angenommen.” (Ärzteblatt)
Die Studie wurde veröffentlicht in JAMA Psychiatry (2017; doi: 10.1001/jamapsychiatry.2017.3554).