Kurze Würdigung: hilfe Blätter von EREPRO Nr. 16 von einem Psychotherapeuten

Seit Jahren lese ich die hilfe Blätter von EREPRO mit großen Gewinn.
Das letzte Heft Nummer 16 ist etwas anders: für Psychotherapeuten wie mich enthält es besonders viele Anregungen –  und zwar in einer angenehmen Darstellungsform, da auf den üblichen Fachjargon verzichtet wird.
Ein allgemeiner, bekannter Mechanismus steht im Zentrum der Überlegungen: Kränkungen, Verletzungen, Demütigungen als schicksalhafte, unbezähmbare Ereignisse, die in ihrer Unkontrollierbarkeit bei dem Betroffenen Angst und Unsicherheit bis hin zu Gewalttätigkeit hervorrufen.
Es wird gezeigt, wie solcherart kränkende Erlebnisse zwangsläufig Versuche der betroffenen Person auslösen, das beeinträchtigte Sicherheitsgefühl wiederherzustellen. Dieser notwendige Vorgang vollzieht sich individuell sehr unterschiedlich, und ist teilweise sinnvoll, teilweise aber auch nicht ungefährlich.
Dabei wird herausgestellt, dass in allen Lebensbereichen etwas so ertwas vorkommt – auch in der Politik, nicht nur bei “psychisch gestörten” Menschen in psychiatrischen Kliniken. Das gelingt dadurch, dass der viel beschworenen subjektiven Sicherheit eines  Menschen generell eine sehr zentrale Bedeutung zugeschrieben wird. Psychologische Vorgänge bei der Entstehung dieser lebensnotwendigen Befindlichkeit, ihrer Auswirkung ebenso wie Prozesse der Wiederherstellung nach Verlust durch Kränkung sind im Einzelnen wenig bekannt, und werden hier unter Rückgriff auf die Theorie des Psychoanalytikers und Juristen Pierre Legendre beschrieben. Es ist manchmal nicht leicht, den ungewohnten Gedankengängen zu folgen.

Staat und Recht, Kunst ebenso wie Psychotherapie – als kulturelle Leistungen, an denen Bürger teilhaben, wirken als Sicherheitsgaranten, solange ihre gesellschaftliche Funktion nicht korrumpiert oder verfälscht ist. Dazu liefert das Heft interessante historische Hinweise.
Auf diese Weise befreit die Autorin die eingeengten Vorstellungen über die Probleme gekränkter Menschen aus dem Gehege der institutionellen Psychiatrie, und erleichtert uns Fachleuten damit die immer wieder geforderte Akzeptanz dieser Schwierigkeiten:
nicht mehr zähneknirschendes Herunterschlucken von Kritik am Verhalten “psychisch Kranker” aus ethischen Überlegungen und mühsames, ziemlich entwürdigendes “Annehmen” und “Tolerieren”, wie es uns zum Teil nicht ganz unberechtigt vorgeworfen wird, sondern klares Wissen um die existentielle Notwendigkeit von “Sicherheit” für jeden “Verletzten”, die auf irgendeine Art und Weise wieder gewonnen oder notdürftig ersetzt weden muss.
Auch die Mitarbeiter in der Psychiatrie unterliegen natürlich diesen Mechanismen. Daraus ergeben sich einige wichtige supervisorische Hinweise in dem Text.
Das Konzept der “Schicksallosigkeit” von Kertesz erweist sich dabei als überaus hilfreich, weil es den Fachkräften Einsicht in einen selten so bezeichneten, aber sehr verbreiteten Sicherheitsmechanismus vermitteln kann, den sie bei sich selbst genauso wie bei anderen Zeitgenossen beobachten können.

Historische und zeitgeschichtlich aktuelle Betrachtungen stellen einen Rahmen, der eine nicht auf Krankheitskonzepten basierende Beurteilung problematischer Verhaltensweisen im Kontext von Kränkung im weitesten Sinne ermöglicht. Der Psychiatrie so einen angemessenen Platz zuzuweisen in der allgemeinen Kultur einer Gesellschaft, eröffnet eine Möglichkeit von “Inklusion”, die soweit geht, dem “Idioten” eine herausragende Bedeutung zuzuschreiben, und sogar den Anspruch des “Henkers” auf Beachtung zu berücksichtigen.

Zusammenfassend – Vorteil dieser Sichtweise auf Demütigungen für uns Psychotherapeuten: entsprechende Reaktionen bei Psychiatrie-Patienten können in einem neuen umfassenden Kontext wahrgenommen werden, der  hilft, voreilige Pathologisierung zu vermeiden, und das “Selbsthilfepotential” deutlicher wahrzunehmen mit allen Begrenzungen und Schwierigkeiten.
Hinweise auf therapeutische Hilfen ergeben sich auch aus diesem Konzept. Beispielsweise für Angststörungen und natürlich für posttraumatische Belastungsstörungen. Die Heilsamkeit von Kunstausübung und des Angebotes von Zugehörigkeit zu Gruppen in der Psychiatrie finden ihre folgerichtige Begründung.
Das ganze kommt weniger im Stil einer wissenschaftlichen Abhandlung daher, sondern im Kunstmodus, trotz einer Fülle von Anmerkungen und Hinweisen auf Hintergrundwissen.

 

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