Hildegard Wohlgemuth und ihre Kunst

Heike Schulz, Wohlgemuth-Archiv Bayreuth
Vortrag zur Eröffnung einer Ausstellung anlässlich des 15-jährigen Bestehens des OFF-Freiburg e.V. (Obdach für
Frauen), gehalten am 03.12.2013 in der Meckel-Halle der Freiburger Sparkasse

Von Hildegard Wohlgemuth (1933 – 2003) gibt es viel zu erzählen: von den Schicksalsschlägen, die sie während der Kriegsjahre erlitten hat – Verlust der Heimat in Ostpreußen, Verlust der Familie, Bombenangriff in Leipzig und Verlust ihrer gesamten Kinderheimgruppe, drei Tage verschüttet unter den Trümmern des Hauses, in dem sie mit ihrer Gruppe Schutz gesucht hatte
 – von den Stimmen und Geistern, die sie danach hörte und sah, von ihrem bewegten Leben zwischen Psychiatrie und Obdachlosigkeit, von ihren Erfahrungen als Bettlerin in Paris und wie es ihr trotz allem schließlich gelungen ist, ihre Tochter Petra zur Welt zu bringen und mit ihr zusammen in einer kleinen Hamburger Sozialwohnung ein halbwegs normales Leben außerhalb der Psychiatrie zu führen. Das alles wäre schon spannend genug. Aber heute steht ihre Kunst im Mittelpunkt, ihre grell-bunten, teils naiv anmutenden, teils vielschichtig-hintergründigen Filzstiftzeichnungen, die in den nächsten vier Wochen hier zu sehen sein werden.

Hildegard Wohlgemuth war bereits 52 Jahre alt, als sie als Bettlerin auf dem Hamburger Gänsemarkt stand und von einer Frau etwa gleichen Alters angesprochen wurde. Sie bewunderte den selbstgehäkelten Wollmantel, den Hildegard damals trug, und lud sie zu einem Kaffee ein. Das war der Beginn ihrer Freundschaft mit der Künstlerin Elisabeth Ediger, die für Hildegards eigene künstlerische Karriere so etwas wie eine Hebamme gewesen ist.
Elisabeth lud Hildegard ein, einmal in der Woche zum Malen zu ihr ins Atelier zu kommen. Sie spürte eine große innere Nähe zu Hildegard, hatte sie doch selbst die Schrecken des Krieges erlebt, die Flucht aus Ostpreußen, den Verlust von Heimat und einem großen Teil ihrer Familie und Freunde. In der künstle-rischen Arbeit hatte sie einen Weg gefunden, Vergangenes zu verarbeiten. Sie hoffte, Hildegard würde unter ihrer Obhut vielleicht einen ähnlichen Weg für sich finden. Dabei ging es ihr nicht um Therapie und auch nicht um Kunst. Sie wollte ihr nichts beibringen, sie nicht einengen mit Regeln oder Bewertungen, sie wollte ihr nur Mut machen, sich einzulassen auf das, was dabei entstand.

Hildegard nahm dieses Angebot bereitwillig an. Sie kam jeden Dienstag, immer pünktlich und immer mit einer langen Rose als Geschenk für Elisabeth. Dann setzte sie sich vor eine Wand, die Elisabeth für sie mit grundiertem Packpapier beklebt hatte. Als Farben standen ihr Pigmente und Bindemittel zur Verfügung, die Hildegard selbst mischen musste.

Wie Elisabeth berichtet, war es ein langer und mühsamer Prozess, bis Hildegard sich traute, von den Bildern, die sie in sich trug, etwas herauszulassen. Statt mit bunten Farben, die sie später nutzte, arbeitete sie zunächst fast nur mit Schwarz. Es waren trostlose Bilder von Ausweglosigkeit, Schmerz, Angst  und Gefangensein. Aber ganz allmählich wurde ihre Bilderwelt heller und farbiger. Ihr Selbstvertrauen wuchs. Elisabeths Atelier wurde für sie zu dem, was man in der Traumatherapie einen „sicheren Ort“ nennt, also zu dem Ort, an dem sie den nötigen Schutz fand, um den bedrohlichen Erinnerungen standzuhalten. Am Ende dieser ersten Jahre des Malens bei Elisabeth steht das Bild einer Frau, die aufrecht mit ausgebreiteten Armen in einer offenen Tür steht und ins Freie schaut. „Öffnung“ hat Hildegard dieses Bild genannt. Das Motiv taucht in vielfachen Variationen später immer wieder in ihren Arbeiten auf.

"Öffnung" 1988
"Öffnung" 1994
o. T. 1995

1990 zog Elisabeth nach Lübeck um, und die gemeinsamen Dienstage konnten nicht mehr wie gewohnt stattfinden. Die Kontakte wurden seltener und unregelmäßiger. Aber das Malen war für Hildegard bereits zu einer inneren Notwendigkeit geworden. Sie begann daher sofort, diese Arbeit auf eigene Faust fortzusetzen. Zuhause auf ihrem kleinen Wohnzimmertisch war es eng.  Technik und Materialien musste sie entsprechend verändern. So entstanden zunächst nur kleinformatige Zeichnungen im Format A 4, für die sie fast ausschließlich Filzstifte nutze. Die praktischen Aspekte der Handhabung und der leichteren Verfügbarkeit waren aber nur äußere Gründe für den Stilwandel.

o.T. 1990
o.T. 1990

Mt den Stiften war es ihr möglich, den starken Fluss von Bildern, der sie oft zu überschwemmen drohte, einzugrenzen, klare Konturen und Strukturen zu schaffen und damit mehr und mehr das Unfassbare ihrer traumatischen Erinnerungen zu bannen. Die Konturen geben Halt, schaffen Distanz und Kontrolle über eine im Wortsinne  „verrückte“ Erlebniswelt, der die Malerin bisher hilflos ausgeliefert war.

Auch für die intensiv leuchtenden Farben gibt es Gründe, die nicht nur im Ästhetischen liegen. Das Trauma der Verschüttung verfolgte Hildegard zeitlebens wie ein schwarzer Schatten. Manchmal, in depressiven Phasen  kam er ganz nahe und drohte, sie zu überwältigen. In ihrem Pariser Tagebuch hat sie diesen Zustand durch eine komplett mit einem schwarzen Stift zugekritzelte Seite dargestellt und am Rand notiert:

 „So schwarz ist es in mir – so schwer – drei Tage schon. Es ist so schwarz – der Tod. Ich muss da wieder raus.“

Tagebuch

 
Es waren das Licht und die Farben, die Leben und Rettung bedeuteten, als man sie damals nach dem Bombenangriff aus dem dunklen Keller befreite. Mit den Farben der leuchtenden, grell bunten Filzstifte gelingt es ihr,  dieses Erlebnis immer wieder hervorzuholen und dem diffusen bedrohlichen Schwarz etwas entgegenzusetzen, was buchstäblich Licht ins Dunkel ihrer Erinnerungen bringt, und zwar in einer nicht zu übersehenden Intensität.

Später beim Betteln auf der Straße, inmitten von bunter Werbung und lauter Geschäftigkeit, waren die starken Farben  ein wichtiges Mittel, um Aufmerksamkeit zu erlangen für ihre Anliegen und Botschaften. Auf ihren Bettelschürzen, den großformatigen Plakaten, die sie sich beim Betteln wie eine Schürze um den Bauch zu binden pflegte, formuliert sie diese auch mit Worten, aber das Bild im oberen rechten Drittel der Schürze ist immer der Blickfang, der das Interesse für den Text erst weckt und zugleich vielschichtig  kommentiert.     

Bettelschürze 1993
1994
Bettelschürze 1993

Als Beispiel dafür, wie Hildegard Wohlgemuth das Ringen um Kontrolle über „Verrücktes“ in ihrem Unterbewusstsein zur Darstellung bringt, möchte ich auf ein Bild hinweisen, in dem eine blaue Katze unter einem in hellen, warmen Farben leuchtenden Regenbogen (oder besser: Sonnenbogen) sitzt. Die Position der Katze drückt häufig etwas von der Befindlichkeit der Malerin selbst aus. Katzen,  die von Natur aus sie viele Wesenszüge mit ihr teilen, spielen in ihren Bildern eine zentrale Rolle, man kann sagen, sie stellen so etwas wie ein Alter Ego dar. In diesem Bild thront die Katze im oberen Drittel direkt in der Mitte des Bildes. Unter ihr, durch kräftige waagerechte Linien begrenzt, zeigen sich „verrückte“ Gestalten, Kopffüßler mit dünnen Beinen, der eine lächelt, der andere zeigt die Zähne, im oder über dem Kopf des einen ein grinsender Dämon, darunter eine zweite kleinere Katze, schreckhaft und sprungbereit. Die obere blaue Katze lässt sich von diesem Treiben nicht aus der Ruhe bringen. Mit wachsamen Augen scheint sie aufzupassen, dass die „verrückten“  Gestalten nicht nach oben kommen und ihr den „Platz unter der Sonne“ streitig machen. 

o.T. 1994

Kontrolle über „Verrücktes“ zu gewinnen, es in eine Ordnung zu bringen, verfügbar zu machen, das ist nicht das einzige Thema, mit dem Hildegard Wohlgemuth sich in ihren Bildern auseinandersetzt. Auch die Erfahrungen mit  äußeren Gegebenheiten und die Kommunikation mit bestimmten Personen oder Gruppen spiegeln sich in ihnen wider:

  • das Eingeschlossensein unter Mauern und die Befreiung, vor allem in den frühen Bildern,
o.T. 1991
o.T. 1994
o.T. 1994
  •  die Erfahrungen in der Psychiatrie und im Obdachlosenmilieu,
"Mit Spritzen weichkochen" 1994
o.T. 1994
  • das Engagement in der Öffentlichkeitsarbeit, speziell das Bemühen um Aufklärung über „schizophrenes“ Erleben (Stimmenhören, Farbenrausch, übersteigerte Wahrnehmung u.a.),
"Kopfschmerzen, starke"/Stimmenhören 1993
"Schizophrener Farbenrausch" 1994

 

o.T. 1994
o. T. 1994
o.T. 1994
  • die Natur mit Tieren, Pflanzen, den Elementen und Himmelskörpern – eine Welt, die ihr Kraft gab, in der sie sich geborgen fühlte,
  • und schließlich auch die Rolle der Großmutter, die ihren Enkeln etwas Nettes erzählen möchte (z. B. in dem späten sehr heiteren Bild mit Blumenvase, Bienen, Fröschen, Hahn und lachender Sonne).
o. T. 2003

        

o. T. 2001

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nachdem Hildegard in den Filzstiften ein Instrument der Befreiung entdeckt hatte, begann für sie eine Phase äußerster Produktivität. Unter großem inneren Druck malte sie oft bis zur Erschöpfung. Was dabei entstand, nahm sie häufig mit auf die Straße, um es für wenig Geld zu verkaufen oder auch zu verschenken.

Dabei gewann sie zunehmend  das Interesse der Medien. Der NDR drehte einen Dokumentarfilm mit ihr, Alfred Biolek und Jürgen Fliege luden sie in ihre Talkshows ein, die Presse berichtete über sie und der Hamburger Psychologieprofessor Thomas Bock verfasste zusammen mit der Journalistin Irene Stratenwerth ein Kinderbuch, das auf ihrer authentischen Biografie  basiert und von ihr selbst illustriert wurde („Die Bettelkönigin“, Psychiatrie Verlag). Sogar ein Museum (Schloss Salder, Salzgitter)präsentierte schon zu Lebzeiten ihre Werke in einer umfangreichen Einzelausstellung. Kurz: sie wurde berühmt, – reich allerdings nicht.

Die Bilder, die in dieser Ausstellung zu sehen sind, sind Teil einer Sammlung, die ich aus verschiedenen Quellen zusammengeführt habe und die seit kurzem  Aufnahme in den Bestand des Bayreuther Kunstmuseums gefunden hat. Das ist schon etwas ganz Besonderes, dass diese Werke nun mit der gleichen Sorgfalt und Achtung wie die Arbeiten schon berühmter Künstler wie z.B. Picasso und Klee als Kulturgut bewahrt werden. Nun können wir mit Recht sagen, Hildegard Wohlgemuth ist angekommen in der Welt der Kunst. Sie liegt damit ganz im Trend, denn auch auf der Biennale in Venedig sind sogenannte Outsider-Künstler wie sie in diesem Jahr erstmals „angekommen“ – wie der Titel des Kunstmagazins ART lautet, das kürzlich darüber berichtet hat.

Sie selbst hatte diesen Traum schon bald, nachdem sie Elisabeth kennengelernt und mit dem Malen begonnen hatte. Auf einer ihrer frühen Betteltafeln – den Vorläufern der Bettelschürzen – schreibt sie: „Mache Kultur. Kunst. Malen“. Im Bildteil dieser Tafel eine Collage von Ausschnitten aus Illustrierten, die Welt der Reichen und Schönen, dazwischen wie von Kinderhand gezeichnet eine kleine Frauengestalt, die die Arme in den Himmel streckt als wollte sie nach den Sternen greifen. Wie ein Wesen von einem anderen Stern, in der Welt der Illustrierten die Außenseiterin, unverkennbar. Aber sie bleibt nicht im Abseits, sie stellt sich mitten hinein in diese Welt und sagt uns: „Hallo, ich bin da, ich gehöre zu euch, schaut hin, ich habe euch etwas mitzuteilen!“

Betteltafel 1989

 

 

© Kopieren der Bilder nur mit Genehmigung der Autorin.
Kontakt: Dr. Heike Schulz, Gravenreutherstr. 58, 95445 Bayreuth; heike.a.schulz@gmx.de 
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