Es gibt ein Gefühl der Unsicherheit gegenüber der Wirklichkeit. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass gleich zwei große Projekte in Berlin versuchen sich dem Phänomen zu nähern?
Im Theater HAU in Berlin stand 2013 im Programm “Phantasma der Wirklichkeit”. Intellektuelle, Künstler und Soziologen trafen sich unter diesem Motto mehrfach und diskutierten mit dem Theaterpublikum.
Außerdem läuft in der Hauptstadt eine Ausstellung der Akademie der Künste: “Schwindel der Wirklichkeit”. Sie war ein Jahr lang mit wöchentlichen Veranstaltungen und Diskussionen gemeinsam mit dem Publikum vorbereitet worden.
Sporadisch konnten wir von EREPRO daran teilnehmen, und haben uns dabei dann überrascht gefragt: Ist das nicht auch unser Thema in der Psychiatrie – auch im Doppelsinne des Scharnier-Wortes “Schwindel” (einerseits als Irreführung und andererseits als Taumel) der Wirklichkeit? Aber von Psychiatrie war in den vorbereitenden Veranstaltungen keine Rede.
Hat die Psychiatrie mit der Diskussion über Wirklichkeit und Kunst nichts zu tun?
Wir haben nachgefragt. Hier ist der E-Mail Austausch mit der Akademie der Künste (AdK) in Berlin:
11.3.13 EREPRO:
Ich frage mich, ob Sie in Ihrem “Vorbereitungsbüro” für die Ausstellung “Schwindel der Wirklichkeit” im Herbst auch Kunst von Menschen vorgesehen haben, die Ihrem erklärten Ziel der “Durchlässigkeit” zu nahe gekommen sind, und dabei die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Häufig bekommen sie durch ihre Kunst die Wirklichkeit wieder in den Blick. Viele schaffen es aber nicht. Ihre Kunst beeindruckt uns am meisten vor der Desintegration ihrer Persönlichkeit.
Findet die Nähe Ihres Themas zur Frage “Kunst und Psychiatrie” Berücksichtigung? Nur zwei Beispiele: Paul Celan und van Gogh. Jedenfalls ist für Künstler mit Erfahrung in der Psychiatrie ein Schwindel der Wirklichkeit oft schöne, aber auch bittere Realität, zu deren Darstellung ihre Kunst jedenfalls etwas beiträgt.
16.3.14 AdK, Manos Tsangaris:
Dank für Ihre Mail, die um ein paar Ecken bei mir ankam.
Sie haben völlig Recht. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, nicht nur was sehr bekannte bis populäre Fälle wie Paul Celan und Vincenth van Gogh angeht, sondern auch die unzähligen Menschen, denen der Boden unter den Füßen wegrutscht, was sie als “bittere Realität” bezeichnen.
Jetzt denken wir darüber nach, in welcher Form wir uns diesem Aspekt des Themas nähern sollten und könnten.
Ich bin seit vielen Jahren gut bekannt mit einigen Leuten, die im Zusammenhang der Heidelberger Prinzhorn-Sammlung arbeiten und forschen.
Da sehe ich evtl. einen Ansatz. Oder … was würden Sie vorschlagen?
NB: Durchlässigkeit geht vielleicht nur dann, wenn überhaupt etwas da ist (oder immer wieder neu entsteht) durch das hindurch sie geschieht. Sonst fliegen wir ja auseinander.
24. 3.14 EREPRO:
Es freut mich, dass Sie die Anregung aufgreifen und die Psychiatrie in der geplanten Ausstellung noch Beachtung finden soll. Ich selber bin keine Spezialistin für das Thema, obwohl es mich interessiert. Ich habe mich etwas umgehört und schicke Ihnen einige Informationen. Viel habe ich nicht gefunden.
Thomas Röske (Leiter der Prinzhorn Sammlung) ist, wie Sie sagen, ein wichtiger Ansprechpartner. Er wird immer wieder genannt.
Die Wanderausstellung “Zeige Deine Wunde” der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Evers-Meier, an der Ch. Schlingensief und Klaus Staeck beteiligt waren – aus dem Jahr 2006 – ist Ihnen sicher bekannt.
Die Berliner Galerie “Art crue” hat letztes Jahr Werke von Jutta Jentges (geb. 1961) ausgestellt, eine ausgebildete Künstlerin. Im Katalog der Ausstellung sind Äußerungen von Jentges über Ihre Arbeit kurz zitiert. Aufschlussreicher ist ein Film von Arte über ihre Kunst: Arte Themenabend “Wahnsinnsfrauen”, 2000. https://www.facebook.com/media/set/?set=a.564606030242950.1073741829.256391511064405&type=1
http://www.neues-deutschland.de/artikel/835903.die-malerische-erforschung-des-inneren.html?action=print
Einige kurze Notizen zum Thema Psychiatrie im Kontext des Themas “Schwindel der Wirklichkeit”.
Bei Menschen in besonders schwierigen psychischen Situationen besteht die Integrationsleistung ihrer Kunst darin, Chiffren und Symbole zu schaffen, und erlebte Bedrohungen und Ängste mitzuteilen und dadurch zu bewältigen.
“Die Vollkommenheit des Unvollkommenen fasziniert Jutta Jentges…” hieß es in der Ausstellungseinladung der Galerie „Art crue“. Jentgens will “das Uewusste zu Wort kommen lassen”. Man könnte sagen, dass es „in dieser Kunst darum (geht), die ‘Vernunft zu erobern’. Dem ‘Abgrund der Unvernunft’ (…) muss jede Kultur einen Status verleihen, indem sie ihn entsprechend aufnimmt und umwandelt, damit das Leben stattfinden kann. Ein solcher Status wird sozial konstruiert, er impliziert die ästhetische Vermittlung” (P. Legendre, Über die Gesellschaft als Text. 2012, S. 111).
Dabei gilt es besonders für Künstler, die mit schweren seelischen Verletzungen und Kränkungen sowie mit zu großer seelischer „Durchlässigkeit“ fertig werden müssen, zu beachten: „Wer nur auf sich selber zählt“ und „gegen die Menschen lebt, ist zum Untergang verurteilt. Er betritt die abschüssige Bahn des Mutwillens, und indem er sich aus der Ordnung der Gemeinschaft stürzt, stürzt er sich unvermeidlich aus dem Leben selbst. Auch wenn er einen ungerechten Beschluss der Gruppe bekämpft, darf der Mensch sich nicht von ihr ausschließen.“ (Starobinski, J., Besessenheit und Exorzismus. 1978. Über die Tragödie von Sophokles’ “Ajax”)
Über die somit persönlich und sozial integrative Funktion dieser Kunst im Umgang mit dem Chaos und der “tierischen Raserei” in der Natur des Menschen, können für den Betrachter Grenzen der Zuträglichkeit von „Durchlässigkeit“ erlebbar und ein “Schwindel der Wirklichkeit” vermittelt werden. In einer Grafik von Dieter Kühn, die ich Ihnen evt. zur Verfügung stellen könnte, wird das sehr deutlich.
Durch Respektieren der “‘repressiven’ Regeln, die die Humanität des Menschen ausmachen” (Starobinski S. 35) können diese Künstler versuchen, sich selbst wieder in den Griff bekommen. Für Heike Schulz (Wohlgemuth-Archiv Bayreuth) zeigt sich das am Beispiel von Hildegard Wohlgemuth in klaren Linien, in einer eher zweidimensionalen Darstellung und strengen Konturen, die sich auflösen bei Kunstwerken, die in psychotischen Phasen entstanden. Sie schreibt: „Die Konturen geben Halt, schaffen Distanz und Kontrolle über eine im Wortsinne „verrückte“ Erlebniswelt, der die Malerin bisher hilflos ausgeliefert war“. (In „Hildegard Wohlgemuth und ihre Kunst“, demnächst veröffentlicht auf unserer Homepage www.erepro.de.)
17.4.14 AdK, Manos Tsangaris:
Vielen Dank für Ihre ausführliche und informative Mail!
Ich antworte erst jetzt, weil ich erst einmal ein Operchen zu Ende schreiben musste und von den Menschen weggeschlossen war.
Es geht, was meinen Teil betrifft, weniger um die Ausstellung (*closed circuits*) zum Schwindel der Wirklichkeit – die wird von der Sektion Bildende Kunst kuratiert – sondern mehr ums so genannte Metabolische Büro zur Reparatur von Wirklichkeit. Und hierbei halte ich es für unbedingt geboten, Wirklichkeitsfragen auch in dem Sinne und unter den Gesichtspunkten anzusprechen, wie Sie es aufzeigen. Auch ich bin kein Fachmann darin, aber bezüglich Prinzhorn kenne ich mich ein wenig aus, weil ich vor ca. 25 Jahren ein Stück mit Texten von Hyazinth Freiherr von Wieser geschrieben habe.
Wenn Sie unsere Arbeit ein bisschen verfolgen, hoffe ich, dass Sie auch dabei sein werden, wenns ans Metabolische geht.
Es folgte am 30.10.14 eine Mail mit einem Veranstaltungshinweis von der AdK, Manos Tsangaris:
Kolumba zu Gast im Metabolischen Büro.
Nächste Woche, vom 4.-8.11., wird Kolumba, das Kölner Kunstmuseum, im Metabolischen Büro zur Reparatur von Wirklichkeit in der Akademie der Künste Berlin am Hanseatenweg zu Gast sein (täglich 11-19 Uhr).
Dies bietet die Möglichkeit, einen Ausschnitt der vielfältigen Museumsformate zu diskutieren und sich mit eigenen Fragen einzubringen. Dazu wird Kolumba mit Werken der eigenen Sammlung u.a. von Kurt Benning, Thomas Böing, Felix Droese, Olaf Eggers und Thomas Rentmeister anreisen (…) www.schwindelderwirklichkeit.de.
Der hier genannte Felix Droese setzte Erfahrungen während seines Zivildienstes in einer psychiatrischen Klinik Anfang der siebziger Jahren (vor der Psychiatriereform!) um in den graphischen Zyklus “Grafenberg – die Welt hinter der Welt” (Fotos/ Filme)1. Manos Tsangaris hat mit Stefan Kraus im Metabolischen Büro dazu ein Gespräch geführt unter dem Motto “Warum bin ich hier? – ein Gastspiel aus der Rheinprovinz.2 Wir von EREPRO bedauern, an diesem Beitrag des Metabolischen Büros zur psychiatrischen Thematik nicht teilgenommen zu haben, da keiner von EREPRO in Berlin sein konnte.
Worum geht es?
Die Akademie der Künste will mit dem Gesamtangebot Ausstellung”Schwindel der Wirklichkeit” und “Metabolisches Büro zur Reparatur der Wirklichkeit” “Navigationshilfe für das intellektuelle und emotionale Erfassen der Welt” anbieten! “Die tief greifenden Veränderungen der Kunstpraxis durch die Neuen Medien, insbesondere durch die Digitalisierung”, heißt es weiter auf der Internetseite, “haben zu immer neuen Strategien geführt, in und mit den Künsten Wirklichkeit zu konstruieren oder zu dekonstruieren, um im Sinne einer kritischen Reflexion einen Beitrag zur Aufklärung und zum Widerstand zu leisten.“3
Große Worte.
Die Frage nach der “Wirklichkeit” beschäftigt auch die Psychiatrie – notgedrungen. Wie oft stehen wir Mitarbeiter vor dem Dilemma nicht zu wissen, was ist Wahn, und was ist Wirklichkeit – besonders bei Menschen mit der Diagnose Verfolgungswahn (Paranoia).
Kurz ein Beispiel aus der Praxis: der Schwindel hat uns gepackt, als sich die Frage stellte, ist es möglich, ist es real, dass die CIA eine kurdische Mutter Aiza Cetik (geänderter Name) beobachtet, deren Ehemann in Deutschland im Gefängnis sitzt, und sie Angst haben muss, ihr Kind könne auf dem Schulweg entführt werden? Wer will beurteilen, ob das der Wirklichkeit entspricht! Diagnostizierende Psychiater haben Aizas Ängste für “nicht real” erklärt, deren Ursache nicht wirklich ernst genommen und sie damit den psychisch Kranken zugeordnet. Das ging so weit, dass das Jugendamt ihr Kind in einem weit entfernten Heim unterbrachte.
Wir, Mitarbeiter in der ambulanten Sozialpsychiatrie, haben die Frage “Wahn oder Wirklichkeit” offen gelassen und uns um Aiza gekümmert, da sie offensichtlich Unterstützung benötigte. Und wir sorgten dafür, dass der Kontakt zwischen Mutter und Tochter bestehen bleiben konnte.
Woher hat die Psychiatrie die Autorität, Wirklichkeit in der Weise festzulegen? Die Macht dazu hat sie offensichtlich.
Ergänzend oder parallel zur Ausstellung “Schwindel der Wirklichkeit” der AdK gibt es also das “Metabolische Büro zur Reparatur von Wirklichkeit” unter Leitung des Komponisten Manos Tsangaris. “Reparatur, wegen der Vorstellung irgendwas funktioniert nicht mehr.” Man will sich darum kümmern, dass es wieder funktioniert. “Wir können nur in einer Wirklichkeit reparieren”. Das ist einer der wichtigsten Sätze.
Das Büro organisiert u.a. Workshops dazu. Wir haben an einem Workshop teilgenommen.
Um der Vorstellungswelt des Komponisten Manos Tsangaris vom “Metabolische Büro zur Reparatur der Wirklichkeit” bei der Ausstellung “Schwindel der Wirklichkeit” etwas näher zu kommen, zitieren wir aus einem seiner Werke “Poesie in Bewegung” (einige Worte und Sätze aus dem Zusammenhang gerissen): “unfinshed”, “das Unfertige durchlassen”, “selber durchlässig sein und nicht diese völlig fertige abgepackte überall gegenwärtige Undurchlässigkeit das abgesicherte wasserdichte völlig fertige gefinishte und Schluss?” “Im Gewerke wirken alle Meisterhaftigkeiten lächerlich und öde fertig angesichts des Werdens”. Natürlich muss man den Text hier im Ganzen lesen.
Ganz pragmatisch und nah an der Wirklichkeit
Ein mehrere Disziplinen übergreifender Master -Studiengang an der Züricher Hochschule der Künste “spannt einen Raum auf für andere künstlerische Fächer, aber auch für kunstfernere Bereiche wie ‘Naturwissenschaften, Ökonomie’ “. Warum nicht auch für Psychiatrie, Psychotherapie?
Spielen wir es doch einmal durch: anstelle von “Kunstwerk” werden wir (psychiatrisch/therapeutisches) “Gespräch” einzusetzen und prüfen, ob sich auch dafür ein Reparaturbedarf ergibt. Die Wirklichkeit unserer (Gesprächs-)Situation wird sich wie unter einem Vergrösserungsglas () zeigen. Vielleicht wird unsere Wahrnehmung des Gesprächs und damit unserer Arbeitssituation in der Psychiatrie tatsächlich geschärft. Wir haben diese Übertragung auf das psychiatrische Gespräch erst nachträglich vorgenommen und während des Workshops im “Metabolischen Büro zur Reparatur von Wirklichkeit” nicht zur Debatte gestellt.
“Metabolisch” bedeutet, man beschäftigt sich mit dem Verarbeitungs-, dem Verdauungsprozess. (Metabolismus=Stoffwechsel). Dieser spielt für die Aneignung von Wirklichkeit eine große Rolle. Wie hat man sich diese “Verdauung” vorzustellen? Es gibt keine fertige Antworten, man sollte sich dem Prozess überlassen.
Wir bleiben in dem Workshop auf der praktischen Ebene. Tsangaris formuliert in einem Interview im Katalog “Schwindel der Wirklichkeit” die Frage: “Wie kann man mit ganz einfachen Mitteln die Räume so gestalten, dass neue Wirklichkeiten entstehen, phänomenologische Untersuchungen von Grundsituationen. Was ist ein Mensch in einem Raum mit einem anderen Menschen ihm gegenüber …”
: Ganz unser Thema in der Psychiatrie! So können wir uns der Befragung anschließen.
Es sind “15 Studierende und Lehrende, die in der Werkstatt mit Wirklichkeit arbeiten. Die Studierenden haben sich in drei Gruppen aufgeteilt.
Die 1. Gruppe macht ‘Wirklichkeitsaufnahmen’ aus verschiedenen Perspektiven, bzw. sie produziert solche Aufnahmen im Rahmen kleiner Versuchsanordnungen.
Diese Aufnahmen werden dann der zweiten Gruppe ins Büro geliefert und dort als ‘Rohmaterial’ möglicherweise zweckentfremdet, neu behandelt, kombiniert und komponiert.
Daraus entsteht der Versuch, eine gemeinsame Wirklichkeit zu erzeugen und zu verhandeln als work in progress – es geht um die Prozesse einer gemeinsamen Verarbeitung eher als um die Herstellung eines fertigen Produkts.”
Hier folgen nun Bemerkungen, in denen wir nachträglich ein (fiktives) Zusammentreffen von Psychiatrie und Kunst arrangieren. Wir haben einige selbst protokollierte Aussagen und Untersuchungssituationen im Fortgang dieses Workshops hergenommen (zum Teil auch Zitate aus dem Katalog “Schwindel der Wirklichkeit” und von www.schwindelderwirklichkeit.de), um wie in einem Vergrößerungsglas das psychiatrische Gespräch besser zu erkennen.
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“Es geht um eine Anleitung zu ‘undiszipliniertem’ (= Disziplinen übergreifendem) Denken und Vorgehen.”
: Das wäre für die Psychiatrie eine ungewohnte Zielsetzung. Da sie sich grundsätzlich um ganz eigene, feste Standards, Festlegung methodischer Verfahren, Prinzipien und Leitlinien bemüht – und versucht, sich damit als seriös und professionell zu beweisen. Ein ziemlich entgegengesetztes Vorhaben, denn auch bei lebendigem, flexiblen Kontakt im Gespräch mit Hilfesuchenden setzt diese eher dogmatische Grundausrichtung der Kreativität Grenzen und verursacht Fachkräften die “undiszipliniert” vorgehen, schnell ein schlechtes Gewissen.
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Die Züricher wollen sich “in Kontexte vorwagen, in denen (das) Selbstverständnis (der Kunst) auf dem Spiel steht.”
: Aus Sicht der Psychiatrie wird das Ziel des Vorgehens so immer abenteuerlicher! Können wir es uns leisten, unser Selbstverständnis in Frage zu stellen? Die Psychiatrie – eine nicht unumstrittene Disziplin – versucht nämlich im Gegenteil ihren Ruf (besonders als Naturwissenschaft) mit allen Mitteln zu festigen.
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“Was lebt und tut ist zu vielfältig dimensioniert, um sich in Schubladen zu fügen. Was aber bedeutet das für die Kunst”, wenn man in dieser Ausstellung und indem Metabolischen Büro “neue Versuchsanordnungen erstellt, in denen sich das Individuum mit seiner Wahrnehmung oder seinen Vorstellungen von Wirklichkeit in Frage gestellt sieht und sich immer neu bestimmen muss?”
: “Was lebt und tut” ist auch unser Metier. Wir aber pflegen Vielfältigkeit und neue Dimensionen zu kappen durch psychiatrische Diagnose-Schubladen. Was würde sich ändern, wenn wir mehr Vielfältigkeit zuließen und Differenz positiver sehen würden?
Eigentlich ist ja in vielen therapeutischen Situationen eine “Neubestimmung des Individuums” auch unser Ziel, oder geht es doch viel mehr um das Definieren der Individualität des Klienten als abweichend und seine Verpflichtung auf vorgefertigte Bilder von “Normalität”? Es ist eine Gratwanderung für die Mitarbeiter in der Psychiatrie: einerseits kreative Unterstützung von Menschen bei der Suche nach ihrer Identität im Bemühen um Wiedererkennbarkeit im Kontakt mit Anderen, andererseits deren Fremdbestimmung insofern, dass vermittelt wird, wie eine in die Gemeinschaft integrierte Individualität auszusehen hat. Leider neigt die Psychiatrie oft mehr zu Letzterem.
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Jetzt zum Ablauf des Workshops. Alle sind auf Beobachterposten. Manos Tsangaris leitet den Prozess durch Nachfragen. Lehrende und Studenten beschreiben konzentriert und sehr detailliert einen Vorgang, der schließlich (Tage später) in einem Kunstwerk gipfeln wird. Dabei kommt es exemplarisch auf das Verfahren an.
: Hätten wir je die Muße für eine so genaue Beobachtung der Vorgänge bei einem therapeutischen Gespräch? Sollten wir? Ist uns das Verfahren gegenüber dem Ergebnis wichtig genug?
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Zunächst wird die Frage nach den Gegenständen gestellt. Wer hat was aus welchen Gründen gesammelt?
: Auch wir fragen uns, aus welchem Grund wir einen Gesprächsgegenstand gewählt haben. In erster Linie ist das Problem des Hilfesuchenden unser Gegenstand. Woher haben wir ihn? Übernehmen wir das Problem einfach von ihm, oder interpretieren wir: welches Problem hat er “wirklich”? Könnten wir den Kontext beschreiben, den Ort, wo er gefunden wurde? Was wissen wir über seine Geschichte?
Wir können Leute, die mit dem Klienten zu tun haben oder hatten, befragen und würden so ein vielfältiges, oft schillerndes Bild des Gegenstandes “Problem” erhalten, ergänzt durch die Recherche des Kontextes und der Geschichte.
Aber wer geht so vor?
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Verschiedene Gegenstände werden im weiteren Verlauf kombiniert. Man lässt die Kombination auf sich wirken. Das geht nur, wenn zunächst alles gleichrangig zugelassen wird, um gleichzeitig zu selektieren. “Verschiedene Wahrnehmungen schaffen eine neue Wirklichkeit”.
: An dem Punkt zögern wir wieder. Wie können wir “alles zulassen” angesichts der vorgefundenen, meist riesigen Schwierigkeiten des Klienten, dem Anlass des Gesprächs? Sind wir nicht zu einer schnellen Änderung verpflichtet?
Effizienz- und Leistungsdruck verhindern häufig das Kombinieren des Gegenstandes “Problem des Hilfesuchenden” mit anderem. Zum Beispiel mit Themen wie “besondere Fähigkeiten” und “Hobbys und Vorlieben” und verhindern eine neue Wahrnehmung des Klienten.
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Wir lernen in dem Workshop, die Gegenstände, die wir beschreiben, haben immer einen narrativen Aspekt, ohne den ein Bild der Wirklichkeit nicht denkbar ist. Diese Interaktion ist wesentlich. Es geht um den sozialen Aspekt von Wirklichkeit durch das “Mit-teilen”. “Durch Wahrnehmung wird der Rest der Welt isoliert”: “Der Mensch funktioniert einfach so beim Schritte machen”. “Im Metabolischen Büro wird (…) an solchen Verschaltungen gearbeitet, in Bezug gesetzt zu einer Wirklichkeit, die täglich vor unseren Füßen liegt – und, wo sie nicht schubladisiert ist, ausgeprägten Schwindel provozieren mag.”
: Wahrnehmungspsychologisches Wissen, das uns in der Psychiatrie natürlich auch bekannt sein sollte, und nicht ignoriert werden kann, und seien die zu lösenden praktischen Schwierigkeiten noch so dringend.
Aber bei welcher Gelegenheit beschäftigen wir uns damit? Denken wir in der Alltags-Routine noch daran, Klienten ausreichend Gelegenheiten zum interaktiven Erzählen zu bieten und damit zur Stabilisierung ihrer Wahrnehmungen, um Desorientierung und Angst zu vermeiden?
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Damit sind wir im Workshop schon beim “Verdauungsprozess” angelangt. Stichworte: Verständigung durch Sprache, Mentalisierung, Protokolle, Etikettieren von Dingen, Bezeichnungen, Verabredungen. Ein ständiger Prozess.
Wie geschieht die Dokumentation von Wirklichkeit? Aus der Ethnologie – so heißt es – kennen wir die Objektivierung – im Workshops geschieht sie durch andauerndes einfaches Draufhalten der Filmkamera. Das wird kritisch gesehen: “Kommunikation geht aber nur durch Festhalten am eigenen Wirklichkeitsfilter” (der natürlich reflektiert werden kann).
: Muss diese Kritik an der (objektivierenden) Ethnologie gleich gesetzt werden mit Kritik an der Psychiatrie?
Dokumentation ist in der psychiatrischen Arbeit ein problematisches Thema. Wo sie – wie so oft – eins zu eins (pseudo-“objektiv”) durchgeführt wird, reduziert sie in der Regel Sinn und Verständnis. Deren Vermittlung, Verdauung für den Leser, klappt nur beim Offenliegen eigener Wahrnehmungsfilter des Verfassers, die nicht zugunsten seiner Schein-Neutralität unterdrückt werden sollten. Denn gerade die verfälscht die Wirklichkeit.
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Die “Kunstwelt soll dem Menschen wieder etwas bringen”. “Sich einen Reim machen – nur so funktioniert Wahrnehmung, nur so kann man sich auf das Chaos einlassen” und “die jeweilige Perspektive verdauen”.
: In der Psychiatrie besteht unausgesprochen Konsens über mehr Gültigkeit der Mitarbeiterwahrnehmung als Standard für “Normalisierung” seines Gegenübers, des Patienten. Ein Konzept, das aus der Psychiatrie nicht wegzudenken ist. Wie kann man sich dann aber auf Chaos überhaupt einlassen (wollen) – und sei das noch so hilfreich, um die Perspektive des Klienten ansatzweise zu verdauen? Es ist anzunehmen, dass der unabdingbare Verdauungsprozess – und damit gelungene Kommunikation (sich einen Reim machen) – für beide Gesprächspartner bei dieser Gemengelage leicht störbar ist!
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Das Wohlgefühl Wirklichkeit erkannt zu haben, des Verstehens und Realisierens, tritt leichter ein bei einem Vortrag, der durch eine Powerpoint Darstellung begleitet wird. Schon alte Künstler arbeiteten mit diesem Prinzip ein Bild in einen “Fließtext” einzubinden, darauf verweist Tsangaris. Dabei werden für den Verdauungprozess des Partners verschiedene Sinne angesprochen.
: Man kennt dieses Prinzip, aber haben wir im therapeutischen Gespräch Gelegenheiten, das Wohlgefühl von “Wahrheit”, des Verstehens auf diese Weise zu fördern? Wir haben immer wieder festgestellt, dass es sinnvoll ist, auf bereitliegenden Notizzetteln Thema und Gedankengang des Gesprächs nebenbei, wie zufällig, bildlich zu skizzieren. Gesprächspartner greifen gerne diesen zweiten Kommunikationsweg auf und gestalten ihn weiter, indem sie selbst der Skizze etwas hinzufügen. Im Wohlgefühl der Erkenntnis hat mancher schon den voll gekritzelten Zettel mit nach Hause genommen. Einige Klienten springen auch während des Gespräches auf und spielen spontan die erzählte Geschichte. Der Einsatz von Figuren und Puppen, die zur Verfügung stehen, hat eine ähnlich sinnstiftende, verstärkende Wirkung.
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In der Züricher Projektgruppe gab es Beauftragte für Warten und für Stille. Es führt hier zu weit, deren Beobachtungen im Einzelnen wiederzugeben. Nur so viel: Den Workshop-Teilnehmern wurde konkret die Erfahrung vermittelt, wie anhaltende Stille wieder einen stärkeren Selbstbezug herstellt – mit geänderter Wahrnehmung. Nur mit Rückzugsmöglichkeiten gelingt übrigens – so eine weitere Erkenntnis – die Orientierung im Chaos der Eindrücke, die verdaut werden müssen.
: Wie oft denken wir im therapeutischen Gespräch an Warten und die wohltuende Wirkung von Stille? Mitarbeiter haben die Chance, durch den introvertierten Blick ihres Gegenübers darauf aufmerksam zu werden. Der Klient ist dann zurückgezogen mit sich selbst beschäftigt und nimmt nichts um sich herum mehr wahr. Wer nicht wartet, bis dieser Blick sich ändert, und der Gesprächspartner “zurückkommt”, vertut eine enorme Stoffwechselchance und behindert den Erkenntnisprozess des Gegenübers.
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Diese Betonung des Workshops auf Verarbeitungs- und Stoffwechselprozesse, denen auch in einer improvisierten Inszenierung ein großer Raum zugewiesen wurde, führte einprägsam vor Augen, welche Bedeutung diesen Vorgängen zukommt. Insbesondere wurde klar: Verdauung dauert – zwangsläufig. Viel Zeit muss für diese ergebnisoffenen Rezeptionsvorgänge eingeräumt werden.
: Wir wissen auch das in der Psychiatrie. Trotzdem – fürchte ich – fehlt uns in der Regel die Zeit. Dabei steht oft auch eine ausgeprägte Ergebnisorientierung im Wege. Finanzierungsdruck tut ein Übriges. Ich glaube aber nicht, dass in der Psychiatrie so besonders viele Aktivisten unterwegs sind, die “Ergebnisse” nicht abwarten könnten. Gesellschaftlich wird der Kunst wohl doch mehr Gelegenheit zur “Ergebnisoffenheit” eingeräumt als der Psychiatrie mit ihrer Aufgabe sozialer Kontrolle und ihrer Korrekturfunktion. Und die Kunst hat auch ihre Probleme beispielsweise mit Ranglisten und ähnlichen Erfolgskriterien, welche einer Ergebnisoffenheit nicht gerade förderlich sind.
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Eine der Studentinnen aus Zürich verschaffte sich interessante, neue Blicke auf die Wirklichkeit und ihre Variationen, indem sie durch eine der durchsichtigen Plastikdosen mit Struktur blickte, in denen Obst oft verpackt ist. Horizont erweitern, Neues erfahren!
: Gibt es diese Haltung auch im Gespräch bei den psychiatrischen Fachkräften?
Fachlich gefordert ist sicher eine interessierte Arbeitshaltung gegenüber den subjektiven Wahrnehmungen der Patienten. Aber das kann auch nur unbeteiligte, leicht gelangweilte Sympathie bedeuten. Und es liegt nahe, dass Mitarbeiter die Öffnung für neue und andere Erlebnisse ihrer Klienten tunlichst vermeiden, da ihr Job darin besteht, so etwas als unerwünschte Abweichung zu verhindern. Faszination an neuen interessanten Blicken auf die Wirklichkeit verflüchtigt sich schon deshalb, weil solche Phänomene in der Regel mit mehr Arbeit für Mitarbeiter und nicht selten mit einem ihnen zugeschriebenem Scheitern an der allseits geforderten Normalisierungsaufgabe verbunden sind.
An dem Gebrauch des Begriffs “Durchlässigkeit” wird in unserem Vergrößerungsglas der Unterschied zwischen den beiden Disziplinen besonders deutlich. Von dem Künstler Tsangaris, in dem kurzen Gedankenaustausch per E-Mail (s.o.) eher positiv bewertet und zur Verhinderung von Verfestigungen wünschenswert, fürchtet EREPRO ein Zuviel davon bei psychotischen Zuständen.
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Jetzt zeigt sich ein wesentliches Kennzeichen des Metabolischen Büros in Bezug auf die Wirklichkeit: es finden sich dort keinerlei Tendenzen, die Wirklichkeit bestimmter “Subjekte” zu bevorzugen oder abzulehnen. Im Gegenteil, man variiert sie und verschafft sich dadurch neue Erlebnisse. Dementsprechend sind für diese Kunst alle subjektiven Wirklichkeiten gleichwertige Ausprägungen der einen Wirklichkeit.
: Die Psychiatrie dagegen behauptet die Nicht-Gültigkeit der Wahrnehmung einiger Menschen. Das wird in der Regel mit dem Vorkommen definierter Merkmale begründet: zum Beispiel stehen neben dem “Wahn”, Selbstbezogenheit4, Affektverflachung, Antriebsminderung, Gedanken laut werden, Negativismus, Stupor, Erregung, Haltungsstereotypien, Gedankenabreißen oder -einschiebungen in den Gedankenfluss auf dem Index5. So wird die Wahrnehmungswirklichkeit eben der Personen abgelehnt, die ohnehin Probleme im Umgang mit ihren Mitmenschen haben. Und ihnen werden die wenigen Gelegenheiten genommen, ihre Wahrnehmungen durch mitteilende Interaktion mit Anderen zu stabilisieren. Sie haben auch kaum Gelegenheit für ein “wohltuendes Verstehen der Wirklichkeit”. Das muss bei diesen sozial Abgelehnten einen großen Schwindel (Taumel) auslösen, verbunden mit Angst und Unsicherheit. Wie inhuman ist dieses Vorgehen eigentlich?
Diese Notizen aus einem Workshop des “Metabolischen Büros zur Reparatur der Wirklichkeit” haben uns mehr als deutlich gezeigt, dass das Denken und Vorgehen der Künstler, die an dem Prozess der Entstehung eines Kunstwerks arbeiteten, ganz anders, und ungewohnt ist für Mitarbeiter in der Psychiatrie. Wir ertappen uns dabei, im Denken unbeweglicher zu sein und zur (undurchlässigen) definierten Eindeutigkeit zu neigen. Fest umrissene klare, strukturierte Vorstellungen haben anscheinend auf uns eine beruhigende Wirkung. So (nur?) können wir uns dem Chaos stellen, mit dem wir es bei Gelegenheit in der Psychiatrie zu tun haben. Getoppt wird diese Haltung noch von einem unausgesprochenen Nützlichkeitsdenken, das echter Ergebnisoffenheit entgegen stehen kann.
Wie sollen wir in der Psychiatrie Menschen auf die Sprünge helfen, die sich hoffnungslos in die Zwänge ihrer Lebenswelt verkeilt haben, wenn wir selber ziemlich festgefahren leben? Können wir ihnen ein freieres Leben vermitteln, ohne dass sie eine gewisse Freiheit bei uns erleben?
Die Teilnahme an diesem Künstlerworkshop war eine seltene Gelegenheit über unseren Tellerrand hinauszuschauen. Kunst und Psychiatrie bemühen sich beide um die Darstellung und das Verständnis des Lebens in seinen verschiedenen Ausprägungen, und unterliegen damit beide der Gefahr von Machtausübung und Manipulation. Darum ist die Frage nach Reparatur- und Korrekturbedarf für beide wichtig, und sollte nicht ausgeklammert werden.
Wir haben erkannt
1. Dem psychiatrischen Gespräch würde weniger Vereinnahmung von “vorhandener Vielfalt” gut tun. Die Beachtung von Subjektivität des hilfesuchenden Gesprächspartners bietet Ausblicke auf neue, faszinierende Aspekte der Wirklichkeit. Mut und Interesse an Neuem sind dabei förderlich, ebenso ein “Verbergen des didaktischen Zeigefingers zu gunsten des Spielerischen”. Die persönliche Situation des Therapeuten wird seine Wahrnehmung bestimmen, darum wird er nicht von seiner Objektivität und Neutralität ausgehen. Der Irrtum einer derartigen Annahme birgt Gefahren und kann dazu verleiten eigene Werte und Lebensauffassungen zur Norm zu erheben, und den Gesprächspartner daran anpassen zu wollen. Relativieren von Wahrnehmung ist daher heilsam für Psychiatriemitarbeiter.
2. Zulassen und unvoreingenommenes Akzeptieren verschiedener, vielfältiger Erscheinungen wird damit leichter möglich. Eine gute Gelegenheit bietet sich, indem dem Gesprächspartner viel Zeit zum Erzählen eingeräumt wird. “Zielführende” Bestimmtheit relativiert und verflüchtigt sich dabei, und kreative Kommunikation zwischen zwei Menschen kann entstehen.
Das Wissen um eine Welt (und in diesem Sinne eine Wirklichkeit) für alle Menschen – Männer und Frauen (entsprechend dem philosophischen Axiom des französischen Philosophen Alain Bardiou) ist Voraussetzung für echte Wahrnehmungsoffenheit.
3. Stille und Rückzugsmöglichkeiten für Hilfesuchende werden im therapeutischen Gespräch den ganz persönlichen Bewältigungs- und Verdauungsprozess des Klienten erst ermöglich und dürfen darum nicht zu kurz kommen. Auch wenn das psychiatrische Gespräch unter großen Belastungen steht durch Problemdruck, Zeitdruck, Leistungs- sowie Ergebnis- und Normalisierungdruck. Es ist gut, wenn wir darauf immer mal wieder mit der Nase gestoßen werden.
Es ging hier um die Reparatur der Wirklichkeit von Kunst, um “Neudefinition von Beziehungen zwischen Betrachter und Welt, von Wahrnehmung und Wissen, von Ohnmacht und Verantwortung”, und darum, das psychotherapeutisch-psychiatrische Gespräch gleichermaßen wie das Kunstwerk unter die Lupe zu nehmen.
Mitarbeiter in der Psychiatrie sind keine Künstler. Das beweist schon dieser Text. Aber es macht Spass bei den Anderen mal reinzuspitzeln. Und das Metabolische Büro von Manos Tsangaris bot uns viele Anregungen.
In der Ankündigung eines weiteren Workshops heißt es: “Es geht auch um die Reflexionspotenziale, die dabei erfahrbar werden. Dies alles deutet auf einen kreativen Prozess, der ins Offene, Unvordenkliche oder Unsichtbare mündet. Und der – so die Ausgangsthese des Projekts – einen „Schwindel der Wirklichkeit“ erzeugt, um aus eingefahrenen Gleisen des (nicht nur) künstlerischen Tuns herauszuführen.”
Ch. Kruse
2 http://www.kolumba.de/?language=ger&cat_select=1&category=1&artikle=582
3 http://www.schwindelderwirklichkeit.de/Ausstellung/
4 http://de.wikipedia.org/wiki/Paranoide_Pers%C3%B6nlichkeitsst%C3%B6rung
5 https://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/download/pdf/kurzversion-leitlinien/s3-praxisleitlinien-bd1-schizophrenie.pdf
Habe mit Interesse den Erepro- Bericht „Psychiatrie trifft auf Kunst: Variationen über Wirklichkeit“ gelesen, d.h. durchgearbeitet.
Schon der Behauptung im Eingangssatz:
„Es gibt ein Gefühl der Unsicherheit gegenüber der Wirklichkeit“, stand ich ungläubig gegenüber. Leben wir doch in einer Zeit, in der immer weniger Menschen an der Überprüfung einer „vorgegaukelten“ Wirklichkeit überhaupt interessiert sind und sich in erschreckendem Maße auf eine virtuell aufbereitete und mit klarer Zielsetzung manipulierten Form von „Wirklichkeit“ einlässt.
Oder was ist die „Google Brille“ anderes als eine manipulierende Form von virtuell erzeugter Wirklichkeit?
Doch bald war klar, dass mit der Feststellung im Eingangssatz hauptsächlich Personen gemeint waren, die eine gewisse Unsicherheit gegenüber eigenen subjektiven Erfahrungen der „Wirklichkeit“ entwickelt haben, weil sie, im psychiatrischen Sinne, als dysfunktional gelten, oder die andere Personengruppe, zu deren traditionellen gesellschaftlichen Aufgabe es ja gehört, den Blick des „normiert wahrnehmenden“ Bürgers auf eine erweiterte, „erhöhte“ Form von subjektiv erfahrener Wirklichkeit zu lenken: den „Künstlern“.
Dann geht es ausführlich um die Verquickung dieser beiden Personengruppen.
Denn wer aufgrund seelischer Verletzungen und schwerwiegender biografischer Kränkungen den Boden unter den Füßen verloren hat, kann diesen ja durchaus mithilfe eines Prozesses der kreativen Verarbeitung wieder gewinnen.
Der in diesem Zusammenhang gebrauchte Begriff des „Metabolischen Verdauungsprozesses“, was nichts anderes bedeutet wie die Wiedergewinnung einer entglittenen (sprich: traumatisiert wahrgenommenen) Wirklichkeit durch einen kreativ-künstlerischen Ausdruck, halte ich nicht einmal für eine Metapher, sondern für einen real ablaufenden geistig – psychischen Vorgang, der auch körperliche Genesung mit einschließt.
Weiter wird festgestellt, dass die „geistig – seelische Verstoffwechselung“ Zeit braucht, am besten in einer Atmosphäre der Stille vorangeht und eine zu ausgeprägte Konzentrierung auf eine definierte Zielsetzung dem Geschehen abträglich ist. So weit so gut…
Vor fast vierzig Jahren habe ich mich schon mal mit künstlerischen Verarbeitungsprozessen von psychisch erkrankten Menschen beschäftigt.
Es gab da die Bücher von Leo Navratil: „Schizophrenie und Kunst“, „Schizophrenie und Sprache“, „ Gespräche mit Schizophrenen“.
Die Gefühle, die diese Lektüre in mir ausgelöst hat sind mir immer noch präsent:
Eine Mischung aus Neugier, Faszination, Angst und Abwehr:
Neugier auf die mir fremde Erlebniswelt.
Faszination für die konzentrierte Egozentrik und die Wucht des Ausdrucks.
Angst vor den Assoziationen, die diese beunruhigenden Wahrnehmungen in mir auslöst haben.
Abwehr von den zum Teil bizarren, mir bedrohlich destruktiv daherkommenden Denkprozessen.
Meine Abwehrreaktion ging soweit, dass ich die Bücher in den Müll geworfen habe!
Ist mir heute unverständlich, aber damals war ich ja gerade mal 20 Jahre alt…
… den Ereprotext fand ich ziemlich anstrengend zu lesen, wenn man nicht muß, hört man irgndwann mal auf, glaube ich.
“Schräg” (wie E.) find ich den Artikel bestimmt nicht- aber für mich sehr anstrengend den Sprung von Kunst zu den Gesprächen in einem SPDi immer wieder hinzukriegen – geistige Akrobatik, für die mein Hirn nicht ausgelegt ist.